Rosszko? Über Rosszko sind ja mittlerweile verschieden Biographien geschrieben worden, „der Aufstieg des Giganten“, „die Macht aus dem Nichts“, oder schlicht „Freund Rosszko“. Man sammelte eine Unmenge von Informationen über ihn, akribisch von mehr oder weniger professionellen Geschichtswissenschaftlern. Ich respektiere die Arbeit dieser Fachleute. Aber erfasst haben sie Rosszko nicht. Erfasst haben sie nur ihre eigenen Recherchen.
Sie haben Bruchstücke Rosszkos gesammelt, aus der Jugendzeit, aus der Zeit des beruflichen Aufstiegs oder vom spärlichen Privatleben, so wie man als Archäologe Tonscherben oder Knochen oder Schriftfetzchen sammelt und zusammenklebt. Das Resultat ist immer mehrdeutig, schwer zu identifizieren – und oft ein Artefakt, ein wissenschaftliches Kunstprodukt ohne reale Aussagekraft. Sie haben seine Karriere in den verschiedenen Medien beschrieben, seine Erfolge während der Blütezeit von Radio und Fernsehen; sie sind seinen Engagements in Weltnetz nachgegangen, haben sein Portal analysiert – mit den Methoden, die sie analytisch nennen. Und haben Rosszko nicht begriffen. Nicht im Mindesten. Weil er sich nicht begreifen lässt.
Dies nicht etwa, weil Rosszko schwierig zu erreichen und zu erkunden wäre, so wie eine seltene Pflanze, die nur am Rande der Gebirgseiswüste lebt oder sich nur alle Jahrzehnte fortpflanzt, sondern weil er im Gegenteil dauernd präsent ist. Andauernd und überall. Auch das allein wäre kein Hindernis. Man müsste ja nur diese Präsenz erforschen, sie selektionieren und das Überflüssige und die Wiederholungen streichen – fertig. Doch so einfach ist es nicht. Rosszko ist nicht nur überall präsent, in allen Medien, er hat sich in unseren Köpfen eingenistet. Er ist der Beherrscher unseres Geistes. Und wer einen Herrscher verstehen will, muss seine Untertanen studieren. In unserem Falle: uns.
Rosszko ist ein absoluter Fürst. Er steht über den Gesetzen. Legibus absolutus. Was haben wir Menschen uns doch um die Demokratie geprügelt. Welche Opfer wurden für das gebracht, was wir offene Gesellschaft nennen? Und nun das. Ein Reich. Ein Machtgebiet, das sich über die ganze Erde bis in unsere Köpfe erstreckt. Die Kommunity.
Rosszko hat sich offensichtlich immer mit dieser Idee auseinander gesetzt, aber auf eine ganz andere Art als wir Übrigen. Er wird ja nicht müde, die Gesellschaft – er spricht nicht vom Staat, vom Weltstaat, sondern von der Gesellschaft, nota bene – als eine Kommunity zu bezeichnen. Das ist eine Binsenwahrheit. Das Gemeinschaftliche, das Kommunitäre. Und diese Binsenwahrheit, die nichts aussagt, hat er von uns. Von uns, die wir damals Studenten waren, als Rosszko, ebenfalls Student, nur in andere Richtung, uns begegnete.
Wir, wir hatten eine Zelle. So nannten wir das und waren stolz. Eine politische Zelle, wo wir uns regelmässig trafen und diskutierten. Wir beredeten den Ablauf der gesellschaftlichen Ereignisse, studierten die uns schmackhaft gemachten Bücher. Und folgten der festen Überzeugung, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis sich der Ablauf der Geschichte zu unseren Gunsten wenden würde und wir die Geschicke der Menschen und Staaten lenken würden – der Staaten, die dann ohnehin bald abgeschafft wären. Wir, die wir dank Literatur und Philosophie den Durchblick errungen haben, würden die neuen Lenker sein.
Wir, die wir jung genug waren, um noch träumen zu können. Wir träumten von einer egalitären Gesellschaft. Davon träumen viele – wie ich erst später entdeckt habe. Damals aber meinte ich, nur wir träumten davon, und unter „wir“ verstand ich eine Elite auf der ganzen Welt, eine verschworene Avantgarde von Gleichgesinnten, die früher oder später, eher früher, die Führung übernehmen würde.
Wir alle strebten, so meinte ich, nach Friede und Freiheit. Ich erkannte nicht, dass einige vielmehr von Macht und Herrschaft träumten, und wenn ich es mir genauer überlege, so träumten wir alle davon, insofern wir ja dachten, die Welt entwickle sich gemäss unseren Vorstellungen. Und diese wären mit Macht – wie denn sonst? – durchzusetzen. Damals war mir das nur dunkel bewusst.
Aus heutiger Sicht war es eine Art erster Verliebtheit. Politischer Verliebtheit. Genauer: der Traum von Verliebtheit. Der verliebte Träumer träumt nur von der eigenen Sehnsucht, und meint, nie hätte einer mehr als er um Liebe gerungen. In seinem Herzen. Und er sehnt sich danach, dass seine Liebe und seine zukünftige Liebste die ganze Welt verändern würde. Der Sehnsüchtige ist blind. Er glaubt, der einzige Sehnsüchtige zu sein und sieht die Verliebtheit im Herzen seines Mitmenschen nicht. Ich weiss, dass ich kein begnadeter Schreiber bin, sonst wäre ich nicht Wirtschaftslehrer an einer Mittelschule, sondern Dichter. Meine heimliche Liebe.
Wir hatten in unserer politischen Gruppierung ab und zu Zuzüger, Interessenten, Neugierige, bisweilen auch verdeckte Ermittler der Inneren Sicherheit, weil uns nachgesagt wurde, wir hätten Kontakte zu Extremisten und militanten Kräften. Das mochte sogar wahr sein, die Wege unter jungen Leuten sind kürzer als unter Bejahrten. Wir waren ja selbst militant – wenn auch nur auf geistigem Gebiet. Und wir meinten und glaubten, das würde zur Veränderung reichen.
Auch Rosszko besuchte zwei- oder dreimal unsere Versammlungen, wie ich mich erinnere. Unser Thema? Die zukünftige geschichtslose Gesellschaft, die irdische Erlösung von Entfremdung und Knechtschaft, von niederdrückender Arbeit und von kapitalistischer Ausbeutung. Die Banken waren unsere Feinde, die Grossindustriellen, die Reichen. Die Tyrannen, die Militärs, kurz alle, die Macht hatten. Und wir träumten von einer befreiten, einer machtfreien Gesellschaft. Keiner dachte nur im Geringsten daran, dass der Feind sozusagen mitten unter uns sass. Wenigstens die zwei- oder dreimal. Nämlich Rosszko. Nicht, dass ich ihn heutzutage als Feind betrachten würde – das wäre vermessen. Rosszko hat keine Feinde; sein einziger Feind ist die Unordnung, das Chaos. Die Auflösung der Gesellschaft und eine Zersplitterung aller Strukturen, der Rückfall in jegliche vorzivilisatorische Barbarei. Verrohung. Zum Tier werden. Meiner Ansicht nach, die sich nicht mit derjenigen anderer Menschen zu decken braucht.
Rosszko nahm sogar an unseren Diskussionen teil, und er zeigte sich als intelligent – und ausgesprochen naiv. Er kannte sich wenig aus in der Ideologie, die wir vertraten, und so gaben wir ihm Nachhilfeunterricht – und verwiesen auf die einschlägige Literatur. Es stellte sich später heraus, dass nicht er, sondern wir die Naivlinge waren. Und zwar in doppeltem Sinn. Wir waren unbedarft, weil wir glaubten. An das glaubten, was uns propagiert wurde – an die grosse Vision einer Endzeitgesellschaft. Und wir waren naiv, indem wir an Rosszkos Naivität glaubten. Diese Verkennung seines Potentials brachte ihn an die Macht, sie und nichts anderes. Rosszko fing ganz von vorne an. Ganz naiv. Er nahm nichts für gegeben hin, sondern untersuchte alles, studierte alles selbst in der lebendigen Praxis und handelte danach. Er war zwar an der Uni, aber kein Wissenschaftler, und ich könnte nicht einmal sagen, er war ein Praktiker. Ich müsste präzisieren: Er war ein Künstler der Praxis. Und: Er war schnell von Begriff.
Bei der dritten Begegnung – es waren nicht mehr – war er à jour. Er musste die Literatur gelesen oder sich anderswo informiert haben. Er löcherte uns über die Gesellschaft. Die Gemeinschaft. Das Kollektiv. Und wie wir uns das alles vorstellen würden. Und warum das nicht schon längst so sei. Warum die Menschen nicht längst eine solche Gesellschaft eingerichtet hätten, wie wir es uns erträumten. Ausbeutungsfrei.
Wir erklärten ihm, dass die Einsichtsfähigkeit der Menschen eben gerade durch die stete Indoktrination der Herrschenden vernebelt sei. Das Volk würde sozusagen künstlich auf einer infantilen Stufe der Erkenntnis gehalten. Künstlich blind. Künstlich im Keller gehalten, in Platons Höhle. In Ketten.
Von wem, fragte Rosszko. Eben, von den Mächtigen, von der Macht der Wirtschaft, der Banken und der Politik. Von den Ausbeutern. Die hätten also mehr Erkenntnis als die Besitzlosen, erkundigte sich Rosszko weiter. Genauso ist es, antworteten wir. Dann ist Erkenntnis eine Funktion des Reichtums? Je reicher, desto erkenntnisreicher?
Rosszkos Fragerei nervte. Alles war klar, sonnenklar, wenigstens für diejenigen, die den Durchblick hatten. Also für uns. Aber warum habt denn ihr den Durchblick, die ihr doch gar nicht reich seid? So fragte Rosszko. Naiv. Natürlich hatten wir die revolutionäre Literatur gelesen und waren auf dem Laufenden.
Rosszko schien uns in die Enge treiben zu wollen, und wir gaben ihm zur Antwort, dass er sich vielleicht doch etwas besser informieren sollte, und dass es eben den Weg der wahren Einsicht gebe, und zwar denjenigen Weg, der zum Verständnis in die gesellschaftlichen Prozesse führe und damit nicht nur zur Einsicht, sondern zur Übersicht gelange, nämlich zum historisch notwendigen Ablauf der Dinge.
Und der bewege sich wohin, fragte Rosszo. Notwendigerweise zu einer befreiten Gesellschaft, war unsere Antwort. Deren Avantgarde wir sind, fügte ich hinzu.
Das Ziel ist die Gemeinschaft, fragte Rosszko nochmals, die Kommunität? Ja, eben. Das Niveau des Gesprächs, ich entsinne mich genau, war sehr bescheiden, und ich ärgerte mich entsprechend. Wir hatten uns zwar auf die Fahne geschrieben, die Menschen, auch die allereinfachsten, aufzuklären und zur Einsicht zu bringen, doch darunter verstanden wir nicht die Studenten, die doch weiss Gott rascher von Begriff sein sollten, sondern das Volk. Das werktätige Volk, das nicht sich nicht in Bibliotheken herumtrieb.
Rosszko liess nicht locker. Er nervte, aber er blieb freundlich, auch wenn wir seine Begriffsstutzigkeit mit sarkastischen Bemerkungen aufs Korn nahmen. Dabei war mir gleichzeitig bewusst, dass Rosszko kein Dummkopf war. Im Gegenteil. Er hatte, wie gesagt, die Schriften studiert, aber brachte es fertig, uns auf vollkommen simpler Ebene festzuhalten und ein intellektuelles Aufsteigen in gehobenere Sphären, die unserem Selbstverständnis entsprochen hätten, zu verhindern.
Heute gehe ich davon aus, dass er damals den Begriff Kommunity in sein Denken einpasste, dass dieser also aus unserer Zelle stammte, auch wenn wir darunter etwas ganz anderes verstanden. Aus heutiger Sicht muss ich natürlich zugestehen, dass wir damals einfältig waren, hundert Mal einfältiger als Rosszko, und dass seine simple Fragerei der richtige Weg zur Einsicht war. Zu seiner Form der Einsicht – die ihn auch zum Erfolg geführt hat.
Rosszko hat den Begriff bei uns aufgeschnappt. Aber er hat ihn ganz anders interpretiert. Viel fundamentaler. Und viel diffuser. Wir verstanden unter Kommunität die vom Joch desr Geld- und Kreditwirtschaft befreiten Gesellschaft – er verstand und versteht darunter eine alltägliche Gemeinschaft, ob klein, gross oder umfassend. Er sprach immer von Kommunity, ob er damit die Gemeinschaft der Ferienreisenden, der Bücherkonsumenten, der Fernsehgucker, der Radiohörer oder der Medienproduzenten verstand. Er liess es im Ungewissen – oder besser, jeder konnte sich immer vorstellen, zur Gemeinschaft, zu Rosszkos Kommunity zu gehören, egal, wo er war und was er gerade tat – wenn es nur in Zusammenhang mit Rosszko und seinen Unternehmungen stand. Er sprach von Kommunity, bis sich endlich alle daran gewöhnt hatten, dazu zu gehören, und bis niemand mehr fragte, wozu er denn gehöre.
Heute gehört zur Kommunity, wer das Portal nutzt. So heisst es. Nutzt. Und jeder nutzt es, nur bleibt je länger je mehr unklar, was denn Nutzen heisst. Dient das Portal dem Nutzen des Benützers, oder nützt der Benützer dem Portalanbieter – dient es Rosszko mit anderen Worten. Bis vor einiger Zeit konnte man solche Fragen stellen, jetzt aber sind sie überflüssig geworden, denn Rosszko hat die Herrschaft übernommen, und zwar nicht nur über die Medien, oder über unseren Geist, sondern auch ganz faktisch über unsere Existenz. Was einmal eine geistige Herrschaft war, ist nun zu einer realen, realwirksamen Macht geworden – und wir haben alle ja dazu gesagt, wir haben mit unseren Füssen abgestimmt, wir sind auf die Strasse gegangen und auf die Plätze und haben „ja“ gerufen, in der Not und in der Angst, als nichts mehr funktionierte und wir fürchteten unterzugehen, und nur noch das Portal funktionierte, das wir als Nutzer benützen.
Wir wissen ja alle, wie das vor sich gegangen ist – auch wenn wir alle verschiedene Erinnerungen daran haben. Gemeinsam war uns die Angst, die nackte Angst. Und in der Rückschau können wir natürlich immer behaupten, dies oder jenes sei entscheidend gewesen. Vermutlich aber war nichts entscheidend, sondern ein Zusammenspiel von Umständen, Bedingungen, Nachlässigkeiten, Versäumnissen und die klägliche Unfähigkeit der früher Regierenden war es, die zum Umsturz führten – zum grössten Umsturz in der Geschichte der Menschheit, ein Umsturz, der alles andere als die Revolution war, die wir Studenten uns damals ausmalten.
Dass immer wieder Terroranschläge verübt wurden, war eine Seuche, die nicht mehr nur die städtischen Zentren heimsuchte, sondern auch Provinzen verunsicherten. Die Motivationen zu den Anschlägen waren kaum noch auszumachen und interessierten die Menschen auch nicht mehr. Gewalt stiess auf Gegengewalt und die Polizeikorps der verschiedenen Länder wurden eilig aufgestockt, zum Teil mit zweifelhaften Rekrutierungen und mit oberflächlichen Ausbildungen, so dass die Beamten entsprechend rüpelhaft daherkamen und die Bürger von ihnen keine Sicherheit mehr erwarteten, sondern nur mehr mit schikanösem und überheblichem Benehmen rechnen mussten.
Aufs Ganze gesehen wog schwerer die allgemeine Unsicherheit, was die Geldwirtschaft betraf, das Missverhältnis zwischen Kreditbereitschaft der Banken und ihrer miserablen Kapitalisierung. Eine Weile funktionierte das bestens, und die Menschen wähnten sich in einem sicheren und abgesicherten Paradies – welch ein Irrtum! Der umso verhängnisvoller war, als sie in ihrer Bequemlichkeit ihre Vorsicht und Bereitschaft zur Reaktion verloren und sich einschläfern liessen vom eigenen Genussfrönen!
Die Regierungen unternahmen nichts, im Gegenteil. Sie liessen die Banken gewähren, ja förderten diese ihrerseits mit billigem Notenbankgeld und Auffanggarantien, angeblich, um der Wirtschaft auf die Beine zu helfen und die Arbeitslosigkeit tief zu halten, im Grunde aber, um wieder reibungslos gewählt zu werden. Logischerweise konnte das nicht gut gehen, und logischerweise brachen die schwächeren Staaten zuerst zusammen, gefolgt wie in einer Reihe von Dominosteinen von den halbstarken und den noch ganz starken, die sich schliesslich alle ebenso wenig halten konnten.
Natürlich spielten andere Faktoren eine zusätzliche Rolle – die Illusion der Wohlsituierten zum Beispiel, das heisst der Wahn, es gehe den meisten Menschen dieser Welt doch ziemlich gut, also nicht viel schlechter als ihnen, den Gesättigten, während in Tat und Wahrheit immer noch ein bedeutender Teil der Menschen darbte und auf jede Gelegenheit zum Bessern wartete. Die grösste Illusion aber bestand zweifellos im Wahn, das Waffenarsenal der Welt, und darunter verstehe ich die privaten Waffen genauso wie die staatlichen, helfe den Frieden sichern. Das Gegenteil war der Fall. Die Schwelle zum Mobilisieren von Streitkräften wurde immer niedriger. Immer mehr Soldaten standen unter Waffen. Immer mehr Zivilisten bewaffneten sich unter dem Vorwand, sich selbst verteidigen zu müssen.
Öffentliche Verkehrsmittel waren überwacht und von Sicherheitsbeamten begleitet. Die schlecht bezahlt waren, weil die Staaten ebenso verschuldet waren wie die einzelnen Bürger. Zwischenfälle waren an der Tagesordnung. Der Privatverkehr war nicht sicherer – und vor allem: Er verteuerte sich im Wochenrhythmus, weil die Preise der Rohstoffe und Energieträger stiegen. Immer weniger Leute konnten sich Treibstoff leisten – und immer mehr nur noch unzulänglich heizen.
Die Regierungen gaben ein Bild des Jammers und der Überforderung; ihre Mitglieder waren – in den früher prosperierenden Ländern – an Überfluss gewöhnt und nicht an Mangelwirtschaft. Sie kannten sich nicht aus in der Konzentration aufs Nötigste, in der Produktionsförderung der wichtigsten Nahrungsmittel und Ressourcen, in der Sorge für eine unruhiger werdende Bevölkerung. Die Parlamente nicht anders: Sie waren zu Debattierklubs herabgesunken, und statt dass die Parteien zusammenspannten, befehdeten sie sich in der Not umso stärker und lähmten sich gegenseitig. Das Vertrauen der Menschen in ihre Führer war auf ein Minimum gesunken.
Und dann geschah das Unerwartete, das, was man längst vergessen hatte. Weil sich in der Öffentlichkeit – aber was ist die Öffentlichkeit? – niemand mehr darum kümmerte: Einzelne Staaten bedrohten ihre Nachbarn, warfen ihnen Grenzverletzungen oder Horten von Energie und Ressourcen, von Nahrungsmittel und Rohstoffen vor, künstliche Verteuerung; die Drohungen wurden massiver, schaukelten sich auf, und am Horizont zeigte sich rundherum die schwarze Wolke eines neuen, die ganze Erde umspannenden Krieges aller gegen alle. Die Welt erstarrte. Die Menschen trauten sich kaum mehr aus ihren Häusern.
Und da geschah es. Das Vergessene, das Verdrängte, das Banalisierte, die grösste Gefahr, die die Menschheit gegen sich selbst aufbaute, wurde manifest. Eine Atombombe wurde gefeuert, erst unklar woher, dann unklar, mit welcher Absicht und welchem Ziel, und mit welcher Verantwortung, doch jedermann wusste, dass das Ende der Welt bevorstand. Die Menschheit stand am Abgrund, den sie sich selbst gegraben hatte. Die Menschen würden sich auslöschen. Alle waren sich dessen gewiss. Und alle starrten aufs Portal. Alle erwarteten den Gegenschlag, der hundertmal stärker ausfallen und die ganze Welt in Brand setzen würde, alle erwarteten den Untergang, die Zerstörung – und das Bild der Zerstörung, den Klang der Zerstörung, die Nachricht über die Zerstörung, die im Gang war. Die ganze Welt war vor dem Portal im Anblick des eigenen Untergangs erstarrt.
Und dann – entzündete sich ein Funke, ganz klein erst nur, irgendwo und – überall, in jedem Menschen: Ein Widerstand gegen das Unausweichliche. Es regte sich ein Aufbäumen, eine Rebellion, es regte sich des Menschen grösste Kraft: der Mut. Und sei es nur, um in einem letzten Schrei dem menschlichen Widerstand Ausdruck zu geben und nicht in Verzweiflung, sondern in letzter Würde zu sterben. Und: Die Menschen suchten einander. Keiner blieb allein, keine wollte ohne Zeugen sterben. Keiner wollte sich ducken und verkriechen, nein, die Menschen taten das Gegenteil von dem, was man ihnen gepredigt hatte; sie wichen nicht in irgendwelche Keller und Bunker, sondern sie trafen sich auf Plätzen, zu Dutzenden auf dem Lande, zu Millionen in den Städten. Schweigend erst bildeten sie Kreise und Ketten, umarmten sich, hielten sich an den Schultern, ja küssten sich – und dann sangen sie. Sie sangen die Lieder, die sie im Portal vernahmen; sie sangen die Melodien der Kommunity, der Rosszkommunity, des einzigen Ortes und Hortes, der noch wie eh und je funktionierte, was schreibe ich funktionierte, der lebte.
Das Portal lebte und vereinte die Millionen, die Milliarden von Individuen, von Seelen, von wachen, bewussten Geistern, die sich vereint gegen ihr Ende stemmten; sie sangen, und – nichts geschah, ausser ihrem Gesang geschah nichts. Und sie erwarteten das Ende und kein Ende erfolgte. Nichts geschah. Lange Zeit geschah nichts, und die Menschen kehrten nicht nach Hause zurück, sondern verweilten auf den Plätzen und biwakierten und sorgten füreinander, und man ass nur das Notwendige, und das reichte.
Über das Portal kamen nach langem Warten die ersten Nachrichten. Dem ersten Schlag folgte kein weiterer. Die Militärs blieben ruhig. Rosszko hatte sie miteinander verbunden. Die Militärs, nicht die Regierungen. Die Generäle, nicht die Minister und Parlamentarier. Und die Generäle trafen sich. Bei Rosszko. Und die Menschen schworen auf den Plätzen, dass es kein Zurück gebe. Die Kommunity war geboren. Die menschliche, einzig menschenwürdige Kommunity, organisiert durch Rosszko und sein Portal.
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