• Skip to blog entries
  • Skip to archive page
  • Skip to left sidebar
  • Skip to right sidebar

ROSSZKOMMUNITY

ROSSZKOMMUNITY

 

 

 

 

Rosszko? Er hat mich zu sich hergerufen, vor nicht allzu langer Zeit. Er wollte mich sehen. Er wollte wissen, was in mir vorgegangen sei, warum ich mich so entschieden hätte und nicht anders. Er wollte es genau wissen und fragte jedes Detail, was mich erstaunte; mich hat noch nie jemand nach meiner Motivation gefragt, sondern bis dahin nur nach meinem Handeln.

Rosszko wollte mich sogar ehren, öffentlich, aber ich bat ihn, das zu unterlassen; ich will meinen Tod nicht noch beschleunigen. Er kommt rasch genug. Entweder sterbe ich langsam, an einem Krebs, der irgendwo in meinem Körper auf die Gelegenheit zum Wuchern wartet – oder man erschiesst mich. Aus Rache. Oder aus Scham. Aus verlorener Kriegerehre.

Ich habe es mir jedoch anders überlegt, und darum schreibe ich hier diesen Eintrag. Es kommt nicht darauf an, ob ich etwas früher oder später sterbe. Ich hänge nicht sonderlich an meinem Leben, zumal dieses im Wesentlichen ereignislos verlaufen ist, was mich von meinen Landsleuten auch wenig unterscheidet. Wir waren alles ereignislose Wesen und führten eine ereignislose Gesellschaft. Ich kann auch nicht damit rechnen, dass es für mich in Zukunft anders wird. Es mangelt mir an Lust, den Rest meines Lebens mit Vergnügungen zu verbringen.

Rosszko war der Ansicht, dass ich geehrt werden müsste, weil ich die riesige Katastrophe, den Untergang des irdischen Lebens, wenigstens der höheren Wesen inklusive der Menschen verhindert hätte. Ich halte das für übertrieben, und bin der Meinung, dass gerade mein Fall zeigt, wie disparate, doch zusammenfallende Umstände für den Lauf der Dinge ausschlaggebend sind.

Immerhin hat mich Rosszko empfangen, obwohl ich schwer verstrahlt bin. Ich achte ihn dafür, denn von den meisten Menschen werde ich gemieden – als Schwerstverstrahlter. Ich strahle zwar selbst nicht, bin für andere also vollkommen ungefährlich, aber das glauben die meisten nicht, und schon deswegen sind Vergnügungen für mich eher triste Angelegenheiten.

Ich durchlief eine militärische Karriere. Ich habe sie keineswegs gesucht, im Gegenteil, doch war es bei uns nicht Sitte, dass man in der Schule nach den Interessen oder gar den Leidenschaften der Schüler gefragt hätte – ich benutze das Wort Leidenschaften hier, weil es etwas Neues ist, das ich erst am Kennenlernen bin, seit bei uns die Rosszkommunity und das Portal zugänglich sind. Leidenschaften gab es bei uns höchstens heimlich, für Frauen oder für Schnaps, und beides war doch irgendwie staatlich kontrolliert, denn beides musste man irgendwoher beziehen und man wusste nie genau, wer wo was kontrollierte, und Kontrolle wiederspricht jeder irgendwie gearteten Leidenschaft – soweit ich das verstanden habe.

Ich stamme aus unbedeutenden Verhältnissen ohne Kontakte zur Partei, und hatte keine besonderen Begabungen, aber eine gute Intelligenz und rasche Auffassungsgabe, ein sehr gutes Gedächtnis, so dass ich in den Schulen stets beste Noten hatte und bei den Leistungstests, welche über die Studienplätze entschieden, die vertracktesten Aufgaben auch unter Zeitdruck lösen konnte. Bei uns wurden die Laufbahnen, wie gesagt rein obrigkeitlich entschieden; und da ich auch noch über körperliche Ausdauer verfügte und Entbehrungen leicht durchstand, wurde ich rasch Offizier und den Unterirdischen zugeteilt. Die Unterirdischen waren diejenigen, die für die Nuklearbewaffnung zuständig waren.

Mittlerweile habe ich begriffen, dass wir wegen unserer Bewaffnung weit herum als Schurkenstaat bezeichnet wurden, obwohl in vielen Teilen der Welt genau gleiche Raketen und Bomben stationiert sind – immer noch stationiert sind, womit Rosszko aber gemäss seiner eigenen Versicherung aufräumen will. Dass wir von den stärksten Mächten der Welt Schurkenstaat genannt wurden, erfuhren wir über Verwandte im Süden, und es war uns nicht unrecht, bewies es doch, dass wir ernst genommen wurden, speziell im Bereich von Technik und Entwicklung, und dass wir ebenfalls zu den Stärksten gehörten. Und: Wir waren die einzigen, die ihnen, den anderen, die Stirn boten.

Ich wurde vor einiger Zeit zum Kommandierenden der unterirdischen Streitkräfte ernannt, war damit direkt der Befehlsempfänger der Regierung. Meine Aufgabe war begrenzt, denn die technische Seite wurde von Wissenschaftlern kontrolliert; ich war fürs rein Militärische zuständig. Das erwies sich in der Praxis als problematisch, da wir ziemlich viele Störfälle hatten, die zu reparieren waren, und obwohl uns absolute Priorität bei der Beschaffung von Material zugestanden war, mussten wir häufig darum kämpfen, auch um Spezialisten, denn die Anlagen sind komplex. Und unsere eigenen Techniker, ich muss es leider sagen, waren nicht immer motiviert.

Meine Tätigkeit war monoton. Wir hatten regelmässig verschiedene Alarmfälle zu üben, doch das waren wenige Varianten, denn die politischen Vorgesetzten – ich kann das heute ohne weiteres sagen – waren nicht besonders phantasievoll. Ich selbst hätte viel mehr Szenarien durchgespielt, und so nahm ich mir vor, alle möglichen Fälle durchzudenken, schrieb sie auch minutiös auf, doch vernichtete ich die Notizen wieder, denn man konnte bei uns niemals sicher sein, ob nicht ein Geheimdienst irgendwelche Schriften als Spionage beurteilte und ein Verfahren in die Wege leitete. Es interessierte sich aber nie jemand für meine diesbezüglichen Gedanken.

Ich hatte auch nicht wirklich den Eindruck, dass die politische Führung mit einem massiven Angriff unserer Feinde rechnete. Sondern unser Atompotential diente dazu, den Feind zahm zu halten. Er musste mit schwerster Zerstörung rechnen, sollte er sich allzu sehr aufspielen oder uns in Frage stellen. Ich tat diesen Dienst mehrere Jahre: Testen unserer Bereitschaft, Kontrolle der Warnzeiten, des Ablaufes der Schärfung der Bomben. Diese waren fest auf den Raketen montiert, um die Zeiten möglichst kurz zu halten. Ich selbst war praktisch dauernd auf Pikett. Man traute meinem Stellvertreter nicht, ersetzte ihn aber auch nicht, so dass der Zugang zum Auslösen der Raketen bei mir lag – bei mir allein; ich erfuhr erst im Nachhinein, dass unsere Feinde im Ernstfall und auch bei den Übungen nur zu zweit die Raketen hätten auslösen können. Unsere Armee fusste grundsätzlich nicht auf Kooperation. Jedermann war für seine Aufgabe allein verantwortlich. Uns Unterirdischen war allerdings nicht bekannt, wie riesig die Zahl der Waffen – der Nuklearwaffen – unserer Feinde war und dass diese uns jederzeit bis zum letzten Haar hätten auslöschen können. Solche Fragen wurden mit uns gar nicht diskutiert und blieben der Regierung vorbehalten.

Ich sollte mich hier selbst schildern, und das gelingt mir nur mit Mühe, denn ich bin es nicht gewohnt, weil das bei uns, in unserem System nicht geschätzt und entsprechend nicht geübt wurde. „Nicht geschätzt“ trifft die Sache nicht genau, besser wäre: Nicht erwünscht. Unser Staat war vor dem grossen Umsturz davon beseelt, nicht die gleichen Fehler zu machen wie unsere Feinde; diese liessen den Dingen freien Lauf, ja begünstigten diejenigen, die mächtig waren, so dass sie noch mächtiger wurden. Wir wollten das vermeiden, und es wäre uns auch gelungen, wenn man uns nicht so viele Steine in den Weg gelegt hätte. Wir hatten die Absicht, die Keimzelle für eine neue Welt zu sein, nachdem Bruderstaaten ihrerseits korrupt geworden waren und uns verraten haben.

Dafür wollten wir unsere ganze Kraft einsetzen, und es wäre wohl auch gelungen, wenn – ja wenn was? Wenn der Rest der Welt nicht mit vereinten Kräften uns buchstäblich zu erdrosseln versucht hätte. Er trieb kaum Handel mit uns und trocknete uns aus. Wir wollten den neuen Menschen schaffen, der nicht in persönlicher Gier erstickte, sondern der freigiebig und grosszügig das tat, was die Gemeinschaft, der Staat von ihm erwartete. Und damit war es bedeutungslos, was für ein Mensch einer war.

Jedenfalls war für uns diese Unterscheidung der Menschen in irgendwelche Charaktere oder Personen Zeichen der alten bürgerlichen Dekadenz und wurde möglichst vermieden. Natürlich unterscheiden sich die Menschen, hauptsächlich in der Intelligenz und der Fähigkeit, Entbehrungen zu ertragen; dies allerdings kann man trainieren, und das taten wir in unserem Staat auch mit allen Kindern und zwar regelmässig und konsequent.

Und in gewissem Sinne sind wir ja jetzt, wo Rosszko die Angelegenheiten der Gemeinschaft ordnet und führt, doch da angekommen, wo wir eigentlich hin wollten, vielleicht sind wir da ja nur in einem Übergangsstadium zu einem wirklichen Kollektiv, genauso, wie wir es in unserem System ausgedacht haben.

Warum gerade ich zum Kommandanten ausgelesen wurde, weiss ich nicht. Ich hatte zwar gute Qualifikationen, aber das hatten andere auch. Vielleicht war ich bei einer Inspektion der Regierung, im Beisein des Generalstabes, durch irgendetwas aufgefallen. Ich musste regelmässig ins Zentrum fahren, wo ich über den Gang der Aufbauarbeiten Auskunft zu geben hatte. Die Bauten unterstanden dem militärischen Kommando; die Entwicklung des waffenfähigen nuklearen Sprengstoffes war jedoch einem Forschungslabor unterstellt. Auch dieses erstattete Bericht, doch schien vor allem der militärische Stab sich durch mich unterrichten lassen zu wollen.

Ich fuhr also jede Woche mit einem Chauffeur in die Hauptstadt. Das dauerte einen Tag hin und einen Tag zurück, da unser Arsenal weit abgelegen von den Zentren lag. In der Hauptstadt hatte ich zu warten, bis die Regierung oder der Stab Zeit für mich hatte. Ich übernachtete erst in einer Militärkaserne, doch lernte ich auf diesen Reisen in der Administration eine Frau kennen, mit der sich eine Liebesbeziehung entwickelte, und ich übernachtete in der Folge bei ihr, der Chauffeur weiterhin in der Kaserne. Ich nenne das hier Liebesbeziehung, bin mir aber nicht sicher, ob die Wortwahl richtig ist. Schliesslich weiss keiner, ob das, was er Liebe nennt, ein anderer gleich empfindet. Bald schon wurde ich vom Geheimdienst über meine privaten Verhältnisse befragt, was bei meiner Stellung nicht verwunderlich war.

Da meine Partnerin jedoch vertrauenswürdig war, blieb diese Befragung ohne Folgen. Wir gewöhnten uns an diese Kontakte, ja ich erhielt sogar offiziell das Recht, mit ihr zusammen in einem der gepflegtesten Restaurants zu dinieren, das nur dem höchsten Kader vorbehalten war. Ich gehörte zwar vom Rang her nicht dahin, oder noch nicht, wie ich präzisieren muss, aber von meiner Aufgabe her offensichtlich doch.

Unser Arsenal an strategischen Waffen wurde in verschiedene Silos auf dem kargsten Lande verteilt; dies offensichtlich eine Sorge meiner Vorgesetzten im Stab. Eigentlich hätten sie die Silos möglichst weit voneinander entfernt bauen wollen, andererseits fehlte so die Überwachung und viel wichtiger: der Aufbau gestaltete sich zähe, da es uns immer wieder an Material mangelte, ebenso an Spezialisten beim Bau, wir mussten Leute aus dem Ausland holen, die unserer Sprache nicht mächtig waren. Die Silos für die Raketen mussten möglichst rasch erreichbar sein, zumal schon im Aufbau immer wieder Bestehendes zu reparieren war, und so standen sie doch nahe beieinander.

Über das, was in der übrigen Welt vorging, informierten uns unsere Nachrichtendienste. Und es blieb uns nicht verborgen, dass auf der ganzen Welt die Konflikte zunahmen und dass vor allem der Terrorismus an Stärke gewann. Wir schrieben das der Dekadenz unserer Feinde zu und rechneten damit, dass früher oder später die Ordnung in den reaktionären Ländern zusammenbrechen würde, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Wir waren also zuversichtlich, und konnten angesichts unserer Überlegenheit damit rechnen, dass die Aufgeklärteren unter den Leuten in Feindesland uns zum Vorbild nehmen würden und ihrerseits die Länder revolutionieren und reformieren würden.

Wir hatten bei uns regelmässig die Delegationen befreundeter Parteien aus den anderen Ländern zu Gast – jedenfalls in der Hauptstadt, natürlich nie bei uns draussen in den Silos, die hochgeheim waren. Für sie waren wir natürlich alles andere als ein Schurkenstaat, und sie trösteten uns, dass es eine Frage der Zeit sein würde, bis sie, die Bruderparteien, das dekadente Pack aus den Ämtern jagen und selbst die Macht übernehmen würden. Ich selbst dachte genauso – woher hätte ich eine andere Meinung gewinnen sollen.

Doch erhielt meine Überzeugung einen Bruch, und zwar durch ein Ereignis, das äusserlich kaum von Belang war, mir jedoch eine ganz neue Sicht der Lage – und auch meiner Person zeigte. Auf einer meiner Inspektionen, die ich allein und zu unregelmässigen Zeiten unternahm, entdeckte ich bei einem der jüngsten Unteroffiziere ein elektronisches Gerät. Es war ein Mobilphon. Nach meinem Dafürhalten ein brandneues Gerät. Dünn, mit glänzendem Bildschirm. Offensichtlich ein Gerät aus Feindesland. Einzelne hochrangige Angehörige der Partei und der Administration besassen auch ein solches, offiziell und von Amtes wegen, um die Technologie und auch den Feind zu studieren; sie gaben auch ab und zu damit an, doch waren ihre Geräte deutlich klobiger und unhandlicher als dasjenige meines Untergebenen.

Mein Unteroffizier war offensichtlich am Musikhören, als ich ihn überraschte. Er lief erst rot an und erbleichte dann. Ich stellte ihn zur Rede. Er stotterte Unzusammenhängendes vor sich hin. Ihm war es so klar wie mir, was das bedeutete. Das Einführen und der Besitz fremder Mobilphones waren bei uns verboten. Bei Armeeangehörigen und vor allem in unserer Truppe, die strengster Geheimhaltung unterstand, drohte die Todesstrafe. Unser Staat, der permanent von allen Seiten bedroht war, musste sich rechtzeitig von Elementen säubern, die mit dem Feind gemeinsame Sache machten.

Ich befahl ihm, mich in seine Kammer zu führen. Er zitterte und musste sich am Türrahmen halten. Dann forderte ich von ihm, Schank und Schubladen auf den Boden auszuleeren. Das tat er in Windeseile. Doch keine anderen elektronischen Apparate tauchten auf, abgesehen von einem Gerät, das offenbar zum Mobilphon gehörte und dem Aufladen diente. Er bestätigte. Ich fragte ihn, wer sonst noch so etwas besitze, doch er schüttelte den Kopf. Woher er es habe? Er habe es im Urlaub irgendwo auf dem Markt gekauft. Schwarz. Das war gelogen, doch eine naheliegende Ausrede. Aller Wahrscheinlichkeit hatte er es von einem Verwandten im Süden auf Umwegen erhalten, vielleicht bei einem Besuch. Privilegierten Familien war Besuch aus dem Süden gestattet.

Ich nahm das Gerät an mich und liess den Mann mit seiner Angst allein. Er musste jederzeit mit Verhaftung rechnen, und erst dachte ich auch an eine Meldung. Dann setzte ich das Gerät in Betrieb. Es dauerte einige Zeit, bis ich seine Funktionen verstand. Man konnte telephonieren, logisch, aber es liess sich auch ein Portal öffnen, in dem in leichtester Weise Warenangebote in Nachbarländern zu sehen waren. Ebenso fand ich Nachrichten aus dem Süden, ja von überall her, Musik, ebenso Filme und Videos, erotische Programme, aber vor allem Angebote von Alltags- und Luxusgegenständen: Möbel, Uhren, Autos, Fernseher, Computer.

Ich konnte mich hier also informieren. Direkt und ohne den Umweg über unsere Radio- und Fernsehnachrichten und unsere militärischen Dienste.

Ich brauchte allerdings einige Zeit, um mich zu orientieren. Erst hielt ich alles für Propaganda, insbesondere der Lebensstandard, der hier vorgegeben wurde. Als ich jedoch über das Portal auch auf Seiten stiess, die nur Kameraansichten von Strassen und Gebäuden zeigten, anhand deren ich Tageszeit und Wetter und andere Alltäglichkeiten kontrollieren konnte, wurde mir bewusst, wo der Süden und die übrige Welt – die industrielle Welt – standen, und wo wir. Und bald erkannte ich auch, dass die beinahe durchs Band abschätzigen Angaben über unser Land den Realitäten entsprachen – den Realitäten eines verarmten, zurückgebliebenen, naiven Volkes.

Ich hätte nun endlich den fehlbaren Unteroffizier melden müssen, denn mit jedem Tag, der ohne Anzeige verstrich, hätte ich mehr Mühe gehabt, mein Zögern zu begründen. Wenn ich ihn aber nicht anzeigte, so würde er nach und nach seinerseits mich in der Hand haben und zur Anzeige bringen können. Denn mir war der Besitz eines Mobilphons, und erst noch eines, mit dem man sich in der ganzen Welt umsehen konnte, genau gleich untersagt. Ich war zwar vorsichtig und hatte ein gutes Versteck für das kleine Gerät gefunden; ich benutzte es sogar abseits der Anlagen, doch auch das war nicht ohne Risiko: Ich war bis anhin nur mit dem Chauffeur unterwegs gewesen und hatte das Auto, das mir zu Verfügung stand, nie selbst gesteuert, doch nun unternahm ich ab und zu Ausflüge, denn ich hatte herausgefunden, dass an einem von den Anlagen aus nicht einsehbaren Abhang eines Hügels der Empfang deutlich besser war.

Was aber mehr als alles andere den Ereignissen eine Wendung gab – ich meine die entscheidende Wende – war, dass ich zum ersten Mal Musik, wirkliche Musik hörte. Es kommt natürlich darauf an, was man unter Musik versteht. Wir kannten Kinderlieder, Klänge revolutionärer Opern und Marschmusik. Ganz selten kam einmal etwas aus dem Ausland zu uns, ein Gastorchester, dessen Konzert im Radio übertragen wurde. Ich müsste sogar schreiben, Musik war in unseren Medien verbreitet – aber es war eine Musik, die uns Mut für unsere Ziele geben sollte. Die Musik, die ich aber nun vernahm - oder die ich mir im Portal suchte, mehr und mehr suchte, war eine Musik der Sehnsucht.

Sehnsucht. Ein Wort, dessen Bedeutung ich mir erst bewusst machen musste. Sehnsucht. Das Verlangen nach etwas Unbestimmtem. Das Verlangen nach Zukunft, nach einer Zukunft, die ungewiss war. Die lockte. Musik, die etwas verhiess, was ich nicht kannte – und vielleicht sogar niemand kennt. Es kam mir vor, als ob ich aus einer Erstarrung erwachen würde, aus einer Lähmung, aus einem Traum von Lähmung, und tatsächlich gehört dieser Traum – gelähmt zu sein, das heisst, mit wachstem Bewusstsein keine kleinste Bewegung ausführen zu können – zu meinen gewohnten Träumen, lästig, aber bis dahin nicht weiter der Beachtung wert.

Nun aber lernte ich die Sehnsucht kennen, das Verlangen, nach Liebe, nach Bewegung, nach dem Fremden, nach dem Geheimnisvollen, die Sehnsucht nach dem Duft einer Rose. Sehnsucht gehörte nicht in unseren Staat. Wir arbeiteten für die Gemeinschaft und diese gab uns, was wir nötig hatten, und sie sagte uns auch, was für uns nötig war. Und in dieser fremden, verbotenen Musik erklang das, was nicht nötig war, das, was für sich selbst einen Wert hatte, das Gefühlvolle, das ich offenbar auch erst als Wort und als Bedeutung kennen lernen musste. Wir, wir in unserem Staat, lebten in einer gespenstischen, unwirklichen Welt, dabei war sie in gewissem Sinne wirklicher als die fremde, die neben der wirklichen eine phantastische – nicht eine gespenstische – Seite besass. Ich geriet in ein Durcheinander, wovon meine Worte ja zeugen; ich wusste nicht mehr, was wirklich war und was nicht, denn meine Gefühle und Stimmungen während des Musikhörens kamen mir wirklicher, wahrhafter und inniger vor als alle Realität um mich herum.

Aber ich lernte auch anderes: Dass unsere Feinde in der Welt keineswegs gegenseitige Freunde, sondern untereinander zerstritten waren, und dass unsere wenigen vermeintlichen Freunde je nachdem mit irgendwelchen Feinden zusammenspannten und uns gar nicht ernst nahmen, ja sogar lächerlich machten. Die Lage in der ganzen Welt war bedrohlich – und wir waren keineswegs in einer Position der Stärke, im Gegenteil, wir waren in der wirtschaftlichen Weltrangliste nicht einmal verzeichnet. Und noch etwas. Das Arsenal an Atomwaffen bei unseren Gegnern war immens. Nicht zu vergleichen mit dem unsrigen.

Dann erfolgte der Schlag. Ich nenne es den Schlag, denn wir waren es, die geschlagen, die erschlagen wurden. Wir. Von Feinden, die sich unsere Freunde nannten.

Ich habe auf meinem Portal mitbekommen, wie innert weniger Tage die Spannungen gestiegen waren; alles war gerüstet, die Armeen waren unter den Waffen, man drohte unverhohlen, und niemand wusste genau, welches die Gründe für die Drohungen waren – natürlich gab es immer Gründe, Attentate auf Politiker, Grenzverletzungen, Flugzeuge, die fremde Lufträume überflogen, Scharmützel von Bürgerkriegstruppen in Nachbarstaaten. Man drohte mit dem Schlimmsten, und ich war der einzige in unserer Anlage, der überhaupt informiert war.

Und dann kam der Alarm, der Befehl zum Angriff. Das hatten wir hundert Mal geübt und kannten den Ablauf sekundengenau. Bei allen Angriffen kam der Befehl aus dem Hauptquartier der Regierung, und wir hatten immer davon auszugehen, dass der Alarm echt war. Immer. Es wurde bei uns also, genau gesagt, nie nur geübt, sondern der Ernstfall fand jedes Mal statt – und wurde dann in letzter Sekunde vom Hauptquartier abgebrochen. Und so war es auch diesmal wieder. Der Befehl kam zu mir, persönlich vom Partei- und Regierungschef, und zwar mündlich per Telephon und gleichzeitig schriftlich per Fax auf einer Sonderleitung. Bei uns lief innert weniger Minuten das Bereitstellen der Raketen in den verschiedenen Silos ab; das Schärfen der Sprengkörper, die Vorbereitung zur Zündung der Triebwerke. Ich nahm mir die wenigen Sekunden Zeit, um im Mobilphone Nachrichten zu suchen – und entdeckte den Aufstand der Menschen auf der ganzen Welt, entdeckte die Zusammenkünfte, den stillen Aufstand der Menschen, die ihrem Untergang entgegenblickten.

Unsere Raketen waren startklar – und ich erwartete den Rückruf. Der nicht erfolgte. Kein Abbrechen der Übung. Die Leitung blieb stumm. Der Befehl blieb Befehl. Unsere Bomben würden die Plätze mit den Menschen verwüsten, würden Millionen töten. Millionen unserer Feinde. Ich blickte auf die Uhr, auf unsere Uhr, unser wichtigstes Instrument. Jeder unserer Räume war mit der gleichen Uhr ausgestattet, gross oder riesengross. Und alle liefen synchron, synchron auch mit den Raketensteuerungen.

Ich gab den Befehl zum Abbruch. Ich tat so, als hätte ich ihn über das Telephon empfangen. Alle meine Untergebenen taten, was sie immer taten. Was sie zu tun hatten. Die Raketen und Bomben wieder zurück in Bereitschaft zu versetzen. Die Bomben wurden entschärft, die Raketen in Ruhestellung versetzt. Ich wusste, dass das mein Todesurteil war und erwartete die Sicherheitspolizei jeden Moment. Meine Motivation für den Abbruch? Die Sehnsucht. Nicht meine eigene Sehnsucht, sondern diejenige, die ich in den Gesichtern auf dem kleinen Bildschirm sah, und in den Gesängen, die sie anstimmten.

Dann bebte unsere gesamte Anlage, bebte erneut, bebte nochmals, abgeschwächt, wir wurden zu Boden geworfen, Mobiliar stürzte um, Glas klirrte; es wurde dunkel. Überall. Jedermann wusste, was das bedeutete. Ein Erdbeben – oder wir waren getroffen worden. Wir waren das Ziel gewesen. Und ich, ich hatte die Vergeltung gestoppt. Die Notgeneratoren sollten sich einschalten, doch nichts geschah. Es blieb dunkel. Auch die zweite Serie von Dieselmotoren blieb stumm. Wir konnten nicht einmal unsere Instrumente ablesen. Die Klimaanlage funktionierte nicht mehr. Nichts funktionierte. Wir waren für diesen Fall gar nicht eingerichtet. Wir waren nur zum Angriff eingerichtet. Nicht für einen Treffer, und erst recht nicht dafür, dass wir einen Treffer überleben würden. Mein Mobilphon funktionierte noch. Als einziges Gerät – und auch das würde nicht lange reichen. Immer wieder kontrollierte ich da die Nachrichten – insgeheim. Wir waren getroffen worden. Nur wir allein. Unser Land. In der Peripherie. In der Gegend unserer Silos. Es folgten keine weiteren Attacken. Wir waren die Opfer. Wir? Unser Volk – oder ein Teil davon.

Ich rechnete nicht mit Hilfe von aussen. Wir hatten die ersten Zerstörungen überlebt, aber die Verstrahlungen würden uns umbringen. Wir konnten in den unterirdischen Anlagen bleiben, solange wir Esswaren hatten. Doch die Belüftung würde bald einmal von den Generatoren abhängig sein – und mit der Belüftung würden auch radioaktive Teilchen hereinkommen. Je nachdem, wo wir getroffen waren – und wie der Wind blies. Ich befahl auszuharren, solange wir atmen konnten – und zu versuchen, die Generatoren in Gang zu bringen, damit wir erst einmal Licht hatten.

Da meldete sich einer meiner Offiziere. Im Dunkeln. Ich hatte die ganze Mannschaft in den Kommandoraum befohlen. Er näherte sich mir, seine Stimme wurde lauter. „Sie haben uns verraten!“, warf er mir vor, „Sie hätten den Befehl zum Start nicht abbrechen dürfen. Sie sind ein Spion des Feindes. Ein Hund des Feindes.“ Ich hörte das Klicken seiner Waffe. „Ich bin informiert worden. Von der Regierung. Meine Aufgabe. Sie zu überwachen und im Falle eines Vorkommnisses einzuschreiten. Ich schreite nicht ein. Ich erschiesse Sie.“

Ich war des Todes. Ausser – ich konnte verschwinden. Im Dunkeln. Der Offizier wagte wohl nicht zu schiessen, denn er wusste nicht, wo wer im Raum stand. Ich duckte mich und schlich weg. Ich kannte mich bestens aus in den Räumen – so wie alle anderen auch. Ich musste einen Vorsprung haben. Ich schaffte es, den Raum zu verlassen und die Treppen hochzusteigen. Ich schaffte es auch die Tür zu öffnen, immerhin an diese Sicherheit wurde gedacht. Man konnte die Tür von Hand öffnen.

Düsteres Licht erwartete mich. Ich schloss den Deckel. Ich würde verstrahlt werden. Besser als sich erschiessen zu lassen. Die Landschaft war zerstört; alle Bäume waren geknickt; Staub verdunkelte den Himmel. Unsere Strassen waren bedeckt von Geäst und Baumstämmen. Autos lagen umgestürzt und zerbeult herum.

Ich machte mich auf den Weg. Vielleicht würde ich die Stadt irgendwann erreichen.

 

  

  

 

 

Impressum und Copyright:

Andreas Köhler
Lessingstrasse 2
CH - 9008 St. Gallen
Dr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie

Andreas Köhler
2016-11-11

Blog abonnieren

  • XML RSS 0.91 feed
  • XML RSS 1.0 feed
  • XML RSS 2.0 feed
  • ATOM/XML ATOM 0.3 feed
  • ATOM/XML ATOM 1.0 feed
  • XML RSS 2.0 Kommentare

Verwaltung des Blogs

Login

Powered by

Serendipity PHP Weblog

wechseln zu

www.andreas-koehler.com

www.andreas-koehler.com

Based on the s9y Bulletproof template framework
Powered by s9y – Template by Bulletproof development team.