Rosszko? Damals studierte ich und war politisch aktiv, und schrieb in einer Studentenzeitung, in d e r Studentenzeitung, denn es gab an unserer Uni damals nur eine. Subventioniert vom Rektorat. Genauer gesagt, finanziert vom Rektorat und der Regierung, denn die Zeitung war für die Studenten gratis. Ich hatte immer ein Flair fürs Schreiben, und meine Sätze kamen flott aus der Maschine, aus der Schreibmaschine, - etwas anderes gab es ja damals noch nicht.
Ich nahm kein Blatt vor den Mund und war kritisch, was auch nötig war, der ganze Laden war muffig und verknöchert, jedenfalls in den Geistesfächern, ganz zu schweigen von den Juristen und Ökonomen. Meine Schreibe war dezidiert, und es dauerte nicht lange, da hatte ich die Spitzen der Fakultäten am Hals. Sie verlangten Mässigung, so nannten sie es, Mässigung. Als ob je jemand an gemässigtem Journalismus interessiert wäre.
Dabei stieg die Auflage mit jeder Ausgabe, und wir generierten sogar lokale Werbeeinnahmen. Ich studierte Ethnologie und Linguistik, und da ich hauptsächlich Politisches schrieb, hatte ich auch entsprechende Kontakte zu einschlägig bekannten Leuten, was mir einen Eintrag in die staatliche Fichensammlung bescherte. Darauf bin ich übrigens heute noch stolz. Aber im Grunde waren das alles Fingerübungen, und – aus der Distanz betrachtet – änderte sich, was die Politik anbetrifft, nicht viel. Es änderte sich überhaupt nichts – der kurze Hype mit den paar Demos ist ja nicht der Rede wert –, und gerade die Aktivsten liessen sich brävstens vom Bürgersumpf vereinnahmen.
Etwas anderes änderte sich allerdings: Die Musik. Ich schrieb nebenbei über lokale Musikevents, und bei uns lief damals einiges. Bands wurden gegründet; das Leben, das wirkliche Leben fand in den Kellern und Garagen statt und nicht in den Hörsälen, und ich kannte alle Musiker und Sänger. Ich kratzte mein Geld zusammen, um grosse Konzerte zu besuchen; Spex, Matchwood, Physical Enemy waren am Kommen. Auf der Rückreise in der Eisenbahn schrieb ich die Kritiken auf der Roten. Das war meine Reiseschreibmaschine, die jetzt unter Glas in meinem Wohnzimmer steht. Ein Oldtimer. Mit Sammlerwert.
Ich war auf den Geschmack gekommen. Ich war zum Journalisten berufen, wie ich erkannte, als ich an der See, an einer zugigen Küste, ein Konzert besuchte, an dem bekannteste Bands spielten – The Temple, Charity, Walkin’ Ghosts – und für eine Tageszeitung einen Bericht ablieferte – der erste, für den ich ein nennenswertes Honorar erhielt. Es war wie eine Weihe, eine Initiation, wie eine Neugeburt. Die Musik war nicht einfach Musik. Sie war meine Musik; sie gab meinem Geist nein, meinem Körper, meinem gesamten Nervensystem einen neuen Takt vor, den Takt der neuen Welt, den Takt, der aus der nahen Meeresbrandung emporzusteigen schien.
Im Studentenblatt prophezeite ich, dass diese Musik die ganze Gesellschaft gehörig durchmöbeln und revolutionieren und die alten Schlacken und ihre tattrigen Produzenten und Verbreiter unbarmherzig zur Stube hinauskehren würde, und zwar nicht mit dem eisernen Besen, sondern mit der Elektro-Gitarre. Da gerade anschliessend eine Demo stattfand, an der auch eine Trackband spielte, die deswegen grössten Zulauf erhielt und mit einer grösseren Polizei-Rempelei endete, wurde ich als Agitator gestempelt und mir wurde der Job bei der Zeitung gestrichen. Ein Dekan der Universität drückte meine Entlassung beim Studentenrat durch – die Tussis dort hatten die Hosen voll, aus lauter Angst, durch die Prüfungen zu fallen.
Zur Präzisierung: Nachdem ich das Studiblatt verlassen hatte, lagen die Stapel von ungelesenen Exemplaren überall bei den Uni-Eingängen herum, was mich mit unverhohlener Genugtuung erfüllte.
Noch in der gleichen Woche kam einer auf mich zu, ein Student, so meinte ich, dem ich bereits in einem Seminar begegnet war. Was er studierte, wusste ich damals nicht. Heute weiss ich, dass er überhaupt nichts studierte, jedenfalls nicht das, was wir anderen studierten. Oder nicht so, wie wir studierten. Für uns war die Uni Verlängerung des Schülerlebens ins Erwachsenenalter, für ihn war sie vermutlich ein Amalgam von Forschungsstätte und Atelier, und wir Studenten waren Studienobjekte und Rekrutierungsreservoir. Es war Rosszko. Dass er die verschiedensten Schulen besucht und nie irgendwo einen Abschluss gemacht hat, ist heute ja allgemein bekannt, und wundert mich auch nicht. Er liess die Schulen hinter sich, wie ein Biologe, der sein Mäuselabor verlässt, sobald er alles, was er erforschen wollte, herausgefunden hat.
Rosszko erkundigte sich in einer Pause, was für Pläne ich hätte. Ich hatte überhaupt keine Pläne – die Semesterferien standen bevor und ich wollte eigentlich irgendwo im Süden billig herumflanieren. Weiter dachte ich nicht. Ob ich bereit wäre, die Redaktion eines Musikblattes zu übernehmen, fragte er weiter. Das Blatt müsse erst noch gegründet werden, erklärte Rosszko. Ich war skeptisch und hatte die Nase voll von Studentenblättern, doch Rosszko wollte eine richtige Zeitschrift über moderne Musik und Events und Neuigkeiten, und ich sei der geeignete Mann dazu. Er brauche eine Zeitschrift, die Reisekultur mit Musik verbinde. Ungefähr so argumentierte er, genau weiss ich es nicht mehr, aber der Posten reizte mich, und ich versprach mir, eigene Ideen zur Musik entwickeln zu können.
Musik. Kultur. Politik durch Kultur. Ich hätte das Talent dazu, meinte Rosszko. Da fehle die Pinke, gab ich zurück, doch er schüttelte den Kopf. Geld? Nichts sei eine Sache des Geldes. Nie. „Sondern?“, fragte ich. Er lächelte und schwieg. Rosszko. Der mächtigste Mann. Heute. Ich weiss immer noch nicht, was er damals meinte.
Er sorge für das Startkapital. Und für die Verbreitung. Ich war skeptisch. Erst dann erfuhr ich, dass Rosszko bereits in den studentischen Reiseveranstaltungen engagiert gewesen war. Er hatte jenen Verein aber bald verlassen und eine eigene Reisefirma gegründet, die R-Travel – mit der ich sogar jenes Konzert am Meer besucht hatte. Es war günstiger gewesen, als wenn ich direkt gebucht hätte. Ich sagte zu und in kürze stand das Blatt. Pace n’Beat. Ich berichtete über Potty. Slurdge, Cableou. Das waren die Trends damals.
Aber ich sah mehr. Ich hörte mehr. Ich hatte eine Vision vor mir. Ich war dauernd unterwegs und hatte die vielfältigsten Kontakte zu den Gruppen, die damals in den Städten aus dem Boden schossen. Städtische Musik, die aber in die Natur strebte. Die Leute – die Jugend – entdeckte die Musik – und das Reisen. Und ich – ich schwebte. Und ich sah, wie das alles zu vereinen war. In einem riesigen Konzert in der Natur. Die grössten Bands sollten spielen und die Musik endgültig aus den Städten in die Natur hinaustragen. Ich besprach die Idee mit Rosszko, und wir verfolgten sie weiter. Und fanden in den Bergen das Entsprechende: ein Tal, das über Passstrassen von mehreren Seiten her zugänglich war – absolut wichtig war das, wie sich erst im Laufe der Organisation herausstellte.
Zurück zur Natur, dies war die damalige Sehnsucht – die Sehnsucht in den Köpfen der Menschen – der Jugend, muss ich präzisieren, aber sie war verborgen, sie war latent, und es war meine Vision, meine Berufung, ihr Leben zu schenken. Und dieser Vision gab ich auch den Namen: Flowerstone. Flowerstone wurde die neue Musikrichtung. Gestein, hartes Urgestein, der Urboden, aus dem Blumen spriessen, hart und klar und unmissverständlich, und neu, denn damals grassierte in der Musik nur altes schleimiges, modriges Zeug.
Unsere Blumen wuchsen auf Steinen. Ich gab der ganzen Musikrichtung den Namen, es war mein Artikel im Pace n’Beat, der den Auftakt gab. Die Acidity – unsere härteste Konkurrenz – widmete dem Thema dann eine ganze Nummer – doch war das nichts als ein Plagiat meines Textes. Ich schrieb Musikgeschichte. Wir organisierten und erwarteten Hunderttausende, und es kamen Millionen. Wir schafften es. Es war der grösste Event, der je auf dem Kontinent stattfand. Pinky Peabody war dabei, Emery Sanders, die Threads, Porty and his Sisters, Clarence. Ich brauche wohl nicht weiter aufzuzählen.
Rosszko sorgte für das Material – wie er es nannte. Bühnen, Türme für die Beschallung, neuartige Klangsteuerung – das steckte damals nicht in den Kinderschuhen, sondern war schlicht gar nicht vorhanden. Wir mussten alles entwickeln. Alles. Gesonderte Lautsprecher für die verschiedenen Frequenzen. Der Sound war phänomenal, die Akustik der Berge half mit. Es war zum ersten Mal, dass eine ganze Mannschaft von Klangtechnikern die Position der Lautsprecher bestimmte – je nach Hall und Echo. Die einen Bands arbeiteten damit, während die anderen das Gegenteil verlangten.
Wir verhandelten die längste Zeit mit den Strom-Firmen, bis die endlich ein eigenes Kraftwerk freigaben – exklusiv für uns. In den Bergen ja kein Problem. Jedenfalls kein technisches. Für den Sound und die Beleuchtung und die Küchen und die Infrastruktur und den Rest. Die Besucher nächtigten in Zelten, was sich ja bis in unsere Zeit gehalten hat, auch wenn die heutigen Open-Airs im Vergleich dazu lächerlich dastehen.
Wer damals dabei war, zählt sich heute noch zur Elite. Ich selbst – ich schwebte in Sphären, die ich vorher und nachher nie erlebt hatte. Es gibt Leute, die solches einfach den Drogen zuschreiben - natürlich kursierten die Pilze und Chemisches, natürlich rauchten wir alles Kraut, das zu haben war, aber das war nichts im Vergleich zur Musik, die die Berge zu zertrümmern drohte. Wir brannten alle lichterloh. Wir verschmolzen mit dem Gestein, wurden selbst zu einer Art Lava, die brodelnd aus den tiefsten Tiefen strömte, verdampfte und den Himmel entzündete. Erst in den Stratosphären kühlten wir wieder ab.
Ich war mit Mellie zusammen, damals, lernte sie zwei Tage zuvor irgendwo zwischen Verstärkeranlagen und improvisierten Hamburgerständen kennen; sie tanzte bei den Pets, allerdings noch nicht lange, und die Pets experimentierten damals bekanntlich mit Irokesentänzen, und Mellie war ein Halbblut, so stellte sie sich jedenfalls vor. Sie tanzte nackt auf der Bühne – und zwischendurch spielte sie zweite Bassgitarre – spielte? Nein, sie beackerte und drosch sie, und ihre Riffs waren Bergstürzen vergleichbar, wie sie seither nie mehr zu hören waren.
Wir liebten uns, zwischen Himmelsklängen und Stroboskopkabeln, zwischen Transformatoren-Kühlgeräten und flechtenbesetzten Granitbrocken; und daneben schrieb ich wie in Trance, denn ich hatte mir in den Kopf gesetzt, jeden Tag zwei Ausgaben der Pace n’Beat herauszugeben, und zwar in Millionenauflage. Die Druckmaschinen der lokalen Pressen weit herum rotierten ununterbrochen, und die Leute konnten die News und Hintergrundinfos in sich hineinziehen, wenn die Bühnen umgebaut wurden. Ich schrieb und liebte; ich rhythmisierte meine Texte, während ich an Mellies Busen lag.
Rosszko – war nur zwischendurch zugegen. Wir hatten eine Kommandozentrale eingerichtet, und Rosszko hatte dafür gesorgt, dass diese schlank und aktionsfähig blieb. Tag und Nacht wurden in regelmässigen Abständen die Auftritte festgelegt – besondere Schwierigkeiten hatten wir mit der Anreise einzelner Bands, die schliesslich gar mit der Armee hergeflogen werden mussten. Da ich nicht nur für meine Zeitschrift, sondern auch für den Kontakt zu den übrigen Printmedien verantwortlich war, hatte ich da regelmässig zu tun, bekam jedoch – in meiner Verfassung – nur das wenigste mit. Das war mir ziemlich egal; interessierte mich doch nur der Sound, der in den Bergen erschallte, der uns alle in bis anhin von der Menschheit noch nie erreichte Himmel katapultierte.
Und wenn Rosszko zugegen war – war er hochkonzentriert, war über alles auf dem Laufenden, und gleichzeitig merkwürdig gelassen; ich würde im Nachhinein sagen, in gewissem Sinne unbeteiligt. Ich machte mir keine weiteren Gedanken darüber – was ich heute als Fehler bezeichnen müsste. Heute – damals aber, lebte ich, ich lebte, ich lebte wie nie zuvor, ich zersprang vor Leben, und darum dürfte ich es nicht als Fehler bezeichnen, dass ich mir keine Gedanken zu Rosszko machte.
Wir waren der Keim einer neuen Gesellschaft, die auf Musik, auf Gefühlen, auf Eros, auf Gemeinschaftlichkeit, auf Friedfertigkeit und Freiheit aufbaute – und wir alle, die wir jene Zusammenkunft erlebten und die das neue Zeitalter einläuteten – wir schworen in unserem Herzen, dass diese neue Gemeinschaft alles Alte und Verstockte und Verderbte überwinden würde.
Unser Festival machte Geschichte. Nicht nur Musikgeschichte, sondern Weltgeschichte. Wir bildeten die „Bewegung“, „the Movement“, und noch immer heissen solche Umbrüche Movements. Die Musiker inspirierten sich gegenseitig, und unsere Musik erhielt eine Popularität, die sie zuvor nie hatte. Sie nahm – schon am Festival für feine Ohren hörbar – die vielfältigsten Einflüsse auf und wurde zur eigentlichen Weltmusik. Die erste überhaupt, die einen solchen Namen verdient.
Die Auflage von Pace n’Beat stieg kometenhaft, und ich erwartete, dass wir – Rosszko und ich – uns über internationale Expansion unterhalten würden. Rosszko war jedoch längere Zeit unauffindbar, und es wurde gemunkelt, dass das Festival ein finanzielles Debakel geworden war. Das steht auch heute noch in den Büchern. Tatsache ist, dass niemand die Tatsachen kennt. Niemand. Ausser Rosszko – wie ich annehme. Es soll sogar ein riesiges Desaster gewesen sein, aber ich habe nie jemanden getroffen, persönlich, der sich über einen Schaden beklagt hätte. Niemand. Rosszko war erst unabkömmlich, und ich erklärte dies mit den riesigen Aufräumarbeiten, die organisiert werden mussten, Wochen dauerten und auch entsprechende Kosten verursachten, obwohl viele Freiwillige daran teilnahmen.
Unterdessen führte ich die Zeitschrift weiter und wartete auf eine Zusammenkunft mit Rosszko. Wenn ich genauer sein will – ich war gar nicht in der Lage zu verhandeln. Ich konnte jede Woche lediglich einen kurzen Artikel schreiben, denn ich war sonst vollkommen niedergeschlagen. Ich war erschöpft. Ich war tot. Quasi tot, ich kam mir zermalmt und leblos vor. Ich hatte alles gegeben – wie wir alle, wie alle Musiker und alle Tänzer und alle Seelen, die teilgenommen hatten. Und: Millie war weg. Irgendwohin verschwunden, und sie fehlte mir, ihr Lachen, ihr Körper, ihre Liebe. Ihr Rhythmus. Ich hatte jeglichen inneren Takt verloren und schleppte mich durch meine Bleibe – eine Wohnung konnte ich das nicht mehr nennen, alles lag herum und vergammelte.
Dann konnte ich die längste Zeit überhaupt nicht mehr schreiben, ich kannte keine Wörter mehr – Musik dröhnte in meinem Kopf, aber das war keine Musik, sondern unablässiger Sound, eine Art Kakophonie, ein Lärm, der nur nach und nach, über Tage und Wochen, so kam es mir vor, verebbte. Die Pace n’Beat wurde weitergeschrieben, ich hatte eine gute Crew zusammengestellt, das war eigentlich kein Problem. Aber als ich mich langsam wieder erholte und Pläne zu schmieden begann, entdeckte ich, dass alles schon gelaufen war.
Rosszko hatte die Kommunity gegründet, ein Musikunternehmen, das die exklusiven Rechte auf die Festival-Sammlung besass. Und: Wenn auch überall von grossen Defiziten die Rede war, so war diese Kommunity keineswegs in den roten Zahlen – auch wenn ich nie Zahlen zu Gesicht bekam. Nach aussen war die Kommunity eine Art Firma auf genossenschaftlicher Basis. Rosszko betonte, dass die Kommunity eine Gemeinschaft von füreinander tätigen Menschen war. Aber rechtlich gesehen war es – und ist es immer noch – eine Einzelfirma. Rosszko gehörend.
Die Pace n’Beat blieb, was sie war. Eine Musikzeitschrift. Eine unter vielen. Ich sprach mit Rosszko. Ich wollte weiter. Ich wollte grösser werden – mit der Zeitschrift. Rosszko zweifelte. Ich warf ihm vor, sich an der Musik zu bereichern – ein Geschäft zu machen aus einer Bewegung, die viel tiefer gründete. Rosszko schüttelte den Kopf. Er bereichere sich keineswegs. Natürlich sei das eine Bewegung, die viel höhere Ziele habe. Er persönlich habe nichts davon. Er brauche auch nichts, habe nichts nötig. Ausser einem Chauffeur, wie er mit einem Lächeln auf den Lippen korrigierte. Das war massiv untertrieben, lebte Rosszko doch auf grossem Fusse, jedenfalls nach meiner Einschätzung. Er reiste herum, war jeden Tag an einem anderen Ort. Nach dem Hörensagen, denn Genaues weiss ich nicht, Genaues weiss vermutlich niemand.
Er war keineswegs eine bekannte Persönlichkeit geworden, noch nicht, wie ich korrigieren muss, aber man wusste – als Insider – von seinen Unternehmungen, und dass er überall seine Beteiligungen hatte.
Ich war von ihm enttäuscht und realisierte, dass diese Bewegung, the Movement, eine rein kommerzielle Angelegenheit war. Er hatte keinerlei Interesse an der Zeitschrift, und so richtete ich diese neu aus, und zwar mit dem Fokus auf Off-Labels, also Produktionen, die nicht Mainstream waren, sondern Avantgarde, also Mental, Credential-Gap und Mantovo.
Daneben begann ich zu koksen. Ab und zu. Ich war nie süchtig. Und doch war ich süchtig. Aber nicht auf Koks, sondern auf jene Welt, jene geistige, musikalische Welt, die wir damals eingenommen hatten, die wir gelebt hatten, und die doch wieder möglich sein musste; eine friedliche, anspruchslose Welt, wir brauchten nichts, nur Musik. Nur Rhythmen, nur Liebe. Und in den kurzen Koks-Momenten meinte ich jene Welt, jenes gelobte, aber mir anscheinend verwehrte Land nochmals von Ferne zu erblicken und seine Klänge zu hören, nicht auf toten Disks, sondern in harmonisierten Sphären.
Ich kann sagen, dass ich mich über Wasser hielt, ja ich verdiente nicht einmal schlecht mit Pace n’Beat; ich verdiente sogar ziemlich gut, war aber oft unterwegs und gab viel aus – das war auch nötig, denn ich musste in der Szene auf dem Laufenden bleiben. Nur: Sie war eben eine Szene geworden – wie es viele Szenen gibt. Und all die Szenen, das haben wir mittlerweile erkannt – spät genug –, sind Szenen eines riesigen Theaters, dessen Intendant Rosszko ist.
Damals war das noch nicht so klar ersichtlich – für mich nicht, jedenfalls. Ich blieb auf dem Laufenden, und das Schreiben fiel mir wieder leichter – ich konnte mich irgendwie davon distanzieren; ich entwickelte eine Art automatisches Schreiben, das heisst, ich konnte intuitiv die richtigen Wörter zur Musik assoziieren, jedenfalls die Wörter, die dem Leser Sinn boten, denn ich selbst bin mir nicht so sicher, ob sie überhaupt einen Sinn ergeben, oder nur für denjenigen, der sich an meinen Stil gewöhnt hatte – denn in meinem tiefsten Inneren denke ich, dass sich Musik und Wörter nicht vertragen, ja nicht einmal Dichtung und Kommentar, und dass die Kommentare Feinde der Dichtung sind. Aber das schreibe ich nur hier, wo es nicht darauf ankommt.
Immerhin, mein Leben, und darauf bin ich nicht wenig stolz, spielte sich ausschliesslich im Rahmen dessen ab, was man Kultur nennt. Und zwar moderne, progressive Kunst und Kultur und kein Konserve. Ich war und blieb an der Spitze der Entwicklung, und gab mich keinen Moment der Bequemlichkeit hin, wie so viele meiner Kollegen, wenn ich denn überhaupt von solchen sprechen will.
Rosszko kam eines Tages erneut auf mich zu: Er habe meine Tätigkeit verfolgt, und er sei beeindruckt. Er kam tatsächlich auf mich zu, und zwar anlässlich eines grossen Events – es war mir zwar erst ein Rätsel, wie er mich angesichts der Masse der Menschen überhaupt gefunden hatte. Einer seiner Mitarbeiter klärte mich später auf. Er liess mich suchen. Wie eine Nadel im Heuhaufen. Dafür ist ihm offensichtlich kein Aufwand zu gross. Denn Rosszko liebt die persönliche Begegnung. Ich könnte auch sagen, er inszeniert mit Sorgfalt die Gelegenheiten, seine suggestive Macht ausspielen zu können.
Er bot mir an, eine Radiokette zu übernehmen, die im Aufbau war. Sie würde verschiedene Musikstile beinhalten, die besten Interpreten bieten und weltweit zu hören sein. Ich stieg ein und übernahm den Job. Mir schwebte eine Gruppe lokaler Radios vor, mit internationalen Nachrichten und Kommentaren, aber lokalen News – und natürlich Spitzensound. Progressivste Musik mit Foren, in denen sich Hörer zur Musik äussern konnten. Eine Kampfansage gegen die Sender, die nur Charts bringen.
Ich arbeitete drei Jahre lang daran. Es wurde ein Fiasko. Die Leute interessieren sich nicht für Kommentare. Jedenfalls nicht im Radio. Sie wollen Musik hören. Und zwar die Charts. Die Hits. Nichts anderes. Sie wollen das hören, was sie schon kennen. Mein Einkommen war gewinnabhängig – das heisst, ebenso katastrophal. Wir lebten von der Werbung – oder genauer: Wir starben an der Werbung. Rosszko brach ab. Er hatte rasch die Konsequenzen gezogen – viel früher als ich – und rechtzeitig die Konkurrenz übernommen. Rechtzeitig für ihn – und für das, was er Kommunity nennt.
Das wär’s. Was Rosszko betrifft. Übrigens: Ich betreibe weiterhin ein Radio. Und eine Musikzeitschrift. Online. Es kostet heutzutage kaum mehr etwas. Es bringt auch nichts – weder Geld, noch Hörer. Das stimmt nicht einmal. Ich habe Hörer, kann sie sogar zählen. Aber ich bin im Portal – in Rosszkos Portal – auf dem x-tausendsten Platz. Also nirgends. Immerhin – ich lebe noch. Kyrillie unterstützt mich. Sie will Karriere machen. In der Musik.
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Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie