Rosszko? Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Man glaubt nur, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Und ich wollte eine von Rosszkos Residenzen sehen. Die nächstgelegene. Immerhin eine Tagesreise entfernt. Natürlich hätte ich Rosszko gern auch einmal selbst gesehen, nicht auf dem Bildschirm, sondern von Angesicht zu Angesicht, aber das ist nicht so einfach. Ich nenne es Residenz, denn ist Rosszko ja immer unterwegs, vor allem jetzt, wo es darum geht …
Worum geht es? Im Grunde geht es darum, unsere Form der Organisation allen rund um die Erde zugänglich zu machen. Ich arbeite selbst in der Organisation. Beim Fernsehen. In der Planung. In der Requisitenplanung. Hektisch. Dafür funktional. Ich habe eine Auszeichnung erhalten – für meine Effizienz. Drei Tage Urlaub.
Darum tat ich mich mit drei – drei Freundinnen, ich nenne sie einmal so, zusammen. Ich wollte das Reale sehen. Das Wirkliche. Wir im Fernsehen leben immer in Kulissen, so denke ich, und Rosszkos Realität wollte ich sehen. Wenigstens ein Stück davon.
Ich wollte immer schon einmal zu dieser Insel fahren; es heisst, sie sei eine der schönsten Sehenswürdigkeiten in unserer Region – wobei sie eigentlich nun zur Nachbarregion gehört. Aber das spielt keine Rolle. Mildes Klima, fast immer schönes Wetter, Palmen, Rosen, Kamelien. So zeigt sie sich auf den Prospekten. Ein Schloss mit Statuen auf Säulen und Zinnen. Und die Insel? Jeder und jede von uns träumt von der Insel, nicht wahr? Und nicht von einer menschenleeren Sanddüne, sondern von einer üppigen tropischen Paradiesinsel.
Rosszko habe die Insel restaurieren und modernisieren lassen. Sie sei zuvor etwas heruntergekommen gewesen. Rosszko soll sich da ab und zu erholen, aber sonst sei die Insel frei für Besucher, immer noch. Ich habe ihn auch einmal in einem Interview da gesehen. Auf der Insel. Er wirkte entspannt und bester Laune. Es ging da aber nicht um die Insel, sondern um die Zukunft der Kommunity.
Genaues weiss ich nicht mehr, aber irgendwie ging es um den Sinn des Ganzen, und Rosszko korrigierte einen Journalisten und erklärte, es gehe nicht um eine wirtschaftliche Gemeinschaft, trotz der neuen Währung, des Rosszkoins, sondern um eine geistige Gemeinschaft, die menschliche Gesellschaft müsse im geistigen Bereich zusammenwachsen, und er sehe seine Aufgabe darin, diesen Prozess zu fördern.
Irgendwie habe ich mir doch beim Hinfahren ausgemalt, Rosszko müsste da sein. Ich wusste natürlich, dass er nicht da ist. Wenn er da ist, dann ist die Insel für Besucher gesperrt. Ausser an den Feierlichkeiten. Wenn er dann gerade da ist. Das war vor knapp einem Jahr und da war er auf der Insel und da habe ich ihn im TV gesehen und sogleich gedacht, ich müsse diese Insel einmal besuchen. Rosszko stammt ja aus der Gegend, so heisst es jedenfalls, oder hat einen Teil seiner Jugend da verbracht. Nicht gerade auf der Insel, sondern in der Nähe. Die Insel ist erst eine Residenz, seit Rosszko … Seit er Residenzen benötigt.
Ich bin hingefahren, mit Mimi, Deborah und Sandie. Das hätte ich bleiben lassen können. Ich weiss nicht, warum ich mit ihnen gefahren bin, lieber wäre ich mit Emil gefahren, aber Emil fährt nie dahin, wo ich hin will – das stimmt auch nicht ganz, denn er kommt immer mit in die Ferien, dahin wo ich will. Aber dann liegt er herum und will nichts mit mir unternehmen. Emil bringt man nicht vom Sofa hoch. Nie. Und allein hat man schlechte Laune. Als Frau. Man ist allein. Jeder sieht das. Eine Frau ohne Mann.
Wir fuhren zu viert, und das Schiff hinüber zur Insel war gedrängt voll Touristen. Wie wir. Sandie klagte über schwere Beine; sie klagt immer über schwere Beine; sie sollte mehr joggen. Auf der Insel noch schlimmer. Schiff um Schiff wurden wir hinüberverfrachtet. Dort ist alles noch viel enger. Jedenfalls beim Hafen. Stände mit Klamotten und Souvenirs. Ich hasse Souvenirstände, vor allem wenn man noch gar nichts gesehen hat. Warum bin ich gefahren? Sandie wollte unbedingt erst etwas trinken, mitten im Getümmel, und so quetschten wir uns in eine Cafeteria, wo wir nachlässig bedient wurden und die Brioches alt und teuer waren.
Dann suchten wir den Eingang zum Palazzo, was nicht einfach war, denn nirgends war etwas angeschrieben. Der Eingang war keineswegs vorne an der Stirnseite des Gebäudes, sondern irgendwo um drei Ecken halb unterirdisch; zwei Kolonnen waren da, eine fürs Erstehen der Karten und die zweite beim Eingang. Sandie weigerte sich anzustehen und fand auch den Eintrittspreis überrissen.
Zwischen den Kolonnen war an der Wand des Palazzos ein riesiger Bildschirm platziert. Er zeigte das Interieur der Anlage, die würdigen hohen Säle mit den spiegelnden Böden, die Aussicht auf den See und die Schneeberge, Palazzo und Garten aus der Vogelperspektive – und zwischendurch natürlich Werbung für andere lohnende touristische Ziele und für Hotels und Vergnügungsstätten in der weiteren Umgebung.
Ich wollte hinein und Deborah ebenfalls. Sie war deutlich hinter mir in der Schlange, und traute sich nicht aufzuschliessen. Zur Eintrittskarte erhielt jeder Besucher einen zusammengefalteten Lageplan von Palazzo und Garten, worauf das Signet der Insel und die Inschrift „Humilitas“ prangte. Humilitas. Demut. Endlich war ich drin. Im Paradies. Es ist ein Paradies, allerdings ein von Touristen bevölkertes. Wunderschöne hohe, barocke Räume, jeder in einer anderen Farbe tapeziert oder getüncht, mit riesigen Malereien, Portraits von Adeligen und kirchlichen Würdenträgern, Szenen aus der antiken Mythologie und der Bibel, ein Säugling in einer Wiege schlafend, getreulich bewacht von zwei Hunden, zarte Pastelllandschaften. Die Böden zeigten mit ihren eingelegten Hölzern vielfältige geometrische Muster; von den stuckierten Decken hingen Leuchter aus schwerem geschliffenem Glas.
Meine Begleiterinnen hatte ich verloren, was mir ganz recht war. Wir hatten schlechte Laune, alle vier. Wir hatten etwas erwartet – irgendetwas, und dafür hatten wir die Reise unternommen. Warum reist man ins Paradies? Ins Humilitas-Paradies? Um etwas zu erleben natürlich. Aber was? Das, was alle erleben wollen. Irgendwie Anteil haben am schönen Leben, an der Schönheit, Selbst Anteil haben, und dann ist man da und hat doch keinen Anteil, weil …
Ich grübelte herum und dann wollte ich die Aussicht sehen, sie soll besonders schön sein, aber alles ist schön hier, die Aussicht aber besonders, so habe ich irgendwo gehört. Die Schneeberge durch die hohen Fenster, aber es waren zu viele Leute da, und ich konnte nur mit dem Handy über all die Köpfe eine Aufnahme machen. Ich stellte das Handy auf stumm und steckte es in die Tasche. Ich wollte meine Ruhe haben. Warum war ich gefahren? Nun war ich auf der Insel gefangen, gefangen in einem Paradies-Palazzo, und das Rückfahrschiff würde genauso überladen sein wie bei der Herfahrt.
Die übrigen Säle besichtigte ich nur noch oberflächlich, kam dann in die Kellergewölbe, die als Grotten bezeichnet sind: Wände, Decken und Böden waren mit kleinen schwarzen und weissen Steinen gepflästert, was einen düsteren und unruhigen, jedoch gekünstelten Eindruck vermittelte, weit entfernt von einer richtigen Grotte. Endlich gelangte ich in den Park, der aus gestaffelten Terrassen an einem Hügel besteht, oben war ein riesiger mehrstöckiger Aufbau, eine Art Kulisse, ebenfalls in Grottenmanier, durchsetzt mit Säulen, auf denen Statuen balancierten. Was suchte ich hier? Das Paradies, die Schönheit, das Glück, und das war das alles, zweifellos, der Architekt wollte das Glück darstellen, was denn sonst, aber das Glück war nicht das meinige, sondern ich war einfach eine Besucherin im Glück. Im Humilitas-Glück.
Immerhin fand ich eine sonnenbeschienene Terrasse mit Gartenstühlen und unweit davon einen Laden, in den ich eintrat. Es duftete hier frisch, nach Blumen, und tatsächlich standen mitten im Laden grosse Töpfe mit exotischen Gewächsen und silberne Gefässe voller Schnittblumen, der in der Art eines Gewächshauses aufgebaut war. Phantastisch duftende Seifen und Aque di Toeletta standen herum, verführerisch, und ich kaufte mir einige der Seifen und eines der duftenden Wässer, entdeckte daneben eine Bar, wo man mir einen Limoncello empfahl, die Spezialität der Insel, einen Limonenlikör. Ich erstand mir ein Glas, trug es in den Park hinaus und machte es mir auf einer steinernen Bank bequem.
Die Sonne schien angenehm warm; der Limoncello schmeckte süss-bitter; ich hatte noch nie einen solch intensiven Geschmackskontrast erlebt. Die Insel war vielleicht doch ein Paradies. Ich öffnete die Verpackung des Parfums, Gocce dell‘isola, tupfte ein paar der Tropfen auf die Wange; ich duftete.
Alles duftete. Der Duft erstreckte sich über den weiten See, über die Menschen, die auf der Terrasse promenierten. Ich kehrte zum Gewächshaus zurück und entdeckte, dass der Limoncello zu kaufen war. Herrlich. Der elysische Trank. Ich erstand mir eine Flasche und gönnte eins ums andere der winzigen Gläschen, roch an den Seifen, deren Geruch sich an den Limoncello und meine Gocce dell’isola schmiegte, ja an mich selbst schmiegte. Ich fühlte mich selbst paradiesisch süss, bitter-süss; meine Stimmung schwebte zwischen den Rosengewächsen und schien selbst zu duften. Ich war im Paradies, in einem Paradies der Sinne, der Lustbarkeiten, der bescheidenen, intimen Lustbarkeiten.
Rosszko kam mir in den Sinn. Vielleicht war es das, was er meinte. Die geistige Gemeinschaft. Die geistige Kommunity. Ich lehnte mich zurück und folgte mit den Augen den anderen Menschen im Park. Es schien mir, als ob sich ihre Schritte verlangsamt hätten, als ob sie wandelten, ja schwebten, auf einer Wolke meines Parfums oder des Limoncello, als ob sie mit den steinernen Putti auf den Säulen tanzen und für Momente deren Plätze einnehmen würden, heimlich, zum Spass, denn die Putti schienen ihrerseits sich zu bewegen, waren der Erstarrung müde, ich trank noch einige der Gläschen, und die Putti hüpften von ihren Podesten herunter und tanzten durch die Besucher, und ich verstand Rosszko und seinen Humilitas-Garten, der von dem Lemoncello und den trunkenen Menschen belebt werden muss; das Paradies ist nicht ein wirklicher Ort, sondern die trunkene Phantasie muss es aus seiner Erstarrung befreien.
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Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie