Ich lernte Rosszko in der Schule kennen. Vor vielen, vielen Jahren. Er kam in unsere Klasse, blieb da ein oder zwei Jahre, genau weiss ich es nicht mehr, dann verschwand er wieder. Er war aufgeweckt, umgänglich, wofür wir anderen ihn heimlich beneideten, doch keineswegs charismatisch, als was er heutzutage ab und zu dargestellt wird. Ich denke, dass er auch jetzt nicht charismatisch ist. Charismatisch sind die Bilder und die Geschichten, die kursieren. Aber heutzutage lässt sich alles irgendwie aufblähen.
Rosszko lernte rasch, sowohl den Schulstoff, als auch die Regeln und Gepflogenheiten, wie sie ja in jeder Schule wieder etwas besonders sind. Das fiel mir erst im Nachhinein auf, ursprünglich machte ich mir zu ihm nicht viel Gedanken. Rosszko kam irgendwoher aus dem Süden, Genaueres wussten wir nicht, er schien bei seinem Vater zu wohnen, und die Mutter in den Ferien zu besuchen, aber das waren vermutlich nur Gerüchte. Man hörte anfänglich einen Akzent in seiner Rede, die aber nicht gebrochen war; binnen Kürze sprach er fliessend Hochsprache und Dialekt, ja er konnte zwischen verschiedenen Dialektfärbungen wechseln.
Das war es jedoch nicht, was ihn mir im Gedächtnis bleiben liess, sondern eher die Tatsache, dass er mehr Zeit als andere zu haben schien. Oder anders: Er war immer mit irgendetwas beschäftigt, machte Notizen, erkundigte sich nach Lokalitäten, die er nicht kannte, zum Beispiel Strassen oder Läden oder Lagerarealen, nach Bahnhöfen oder Verwaltungsgebäuden, nach Kirchen oder dem Rathaus.
Rosszko war immer unterwegs, und bald einmal kannte er wirklich alles, was es in unserer Kleinstadt zu kennen und wissen gab. Er kannte auch eine Menge Menschen, viele Erwachsene, was uns wunderte – wir kannten nur die Verwandten und die Lehrer und die Freunde der Eltern. Rosszko kannte alle und alles. Er war ein hilfsbereiter Jugendlicher, wenn man das so sagen darf, und hilfsbereit heisst, dass er bald seinerseits über alles Mögliche Auskunft geben konnte.
Rosszko wusste, wo was war, wo was zu erhalten oder abzugeben, zu kaufen oder verkaufen war. Rosszko wusste, wer eine Aufgabenhilfe oder Nachhilfestunden suchte, wer ein Radio verkaufte oder sein altes Auto. Rosszko war regelmässig auf dem Laufenden, was auf den kleinen Kärtchen der Aushänge in den Läden der Stadt gesucht oder angeboten wurde. Wer etwas benötigte, fragte Rosszko. Wer einen Abnehmer suchte, erkundigte sich bei Rosszko.
Rosszko war immer beschäftigt, ich habe ihn aber nie in Eile gesehen. Aufgaben machte er unterwegs, das Nötigste nur, denn er hatte eine rasche Auffassungsgabe, brauchte keine Übung und hatte stets beneidenswerte Noten, was uns übrige Schüler ab und zu ärgerte, denn Rosszko war alles andere als ein Streber, im Gegenteil, es schien, als ob ihn der Schulstoff, auch wenn er ihn beherrschte, nicht sonderlich interessierte.
Natürlich erhielt er hier und dort ein Trink- oder Taschengeld für seine Auskünfte und Dienste; Rosszko hatte also immer Geld, mit dem er, soweit ich mich erinnere, eher sparsam umging. Genaueres kann ich allerdings nicht sagen, denn ich war nie bei ihm zu Hause. Wir hielten ihn also für reich, aber das war wohl eher Folge unseres Neids als reale Tatsache, denn Rosszko renommierte nie mit ir-gendwelchen Besitztümern oder einem dicken Geldsäckel, ganz im Gegensatz zu einigen von uns, die aus begütertem Hause kamen oder mit einer freigebigen Grossmutter gesegnet waren.
Wir kamen damals in das Alter, in dem man sich für Mädchen interessiert. Man. Wir. Wir Burschen. Rosszko nicht besonders, so kam es uns jedenfalls vor. Das hiess nicht, dass er bei ihnen nicht beliebt war, im Gegenteil. Er pflegte mit allen besten Kontakt, mehr als wir andere, er war ab und zu an Parties eingeladen, die uns nur entfernt zu Ohren kamen, er wusste um die heimlichen Schwärmereien der Mädchen, respektive ihre Liebeswahlen, doch wenn er bereit war, diese uns zu hinterbringen, waren wir zu stolz – oder zu verlegen – um davon Notiz zu nehmen, und so hatten wir wenigstens in dieser Hinsicht die Genugtuung, dass seine Bemühungen ins Leere liefen.
Die männliche Missgunst wurde bei einigen von uns derart angestachelt, dass sie ernsthaft in Betracht zogen, Rosszko bei Gelegenheit abzupassen und ihm für seinen Vorwitz und seine speziellen Beziehungen, über die unsere Phantasie mittlerweile ins Unermessliche gewachsen war, Gehöriges an die Nase zu versetzen, aber die Gelegenheit erwies sich nie als günstig, das heisst, kaum war die Absicht auch nur vage formuliert, war er entweder unauffindbar oder in Gesellschaft von Erwachsenen oder gar Autoritätspersonen, mit denen er, der noch wie wir alle grün hinter den Ohren war, Umgang pflegte.
Irgendwann war Rosszko weg, so plötzlich wie er gekommen war, und ich machte mir keine weiteren Gedanken über ihn, bis … ja bis er allgemein bekannt wurde, und in aller Munde war.
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Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie