Rosszko? Ich arbeite für ihn. Wie viele andere. Ich arbeite seit Jahren für ihn und bin seine erste Angestellte. Ich arbeite natürlich für mich, für meinen Lohn. Ich brauchte die Stelle, damals. Stellen waren rar, und ich benötigte Geld; ich hatte einen kleinen Sohn – und keinen Partner. Keine Alimente. Ich bewarb mich bei der „Transfer GmbH“. So hiess die Firma damals.
Ich bin ein vorsichtiger Mensch und pflege mich rechtzeitig zu erkundigen, suchte also Informationen über diese „Transfer“, und fand lediglich einen nichtssagenden Eintrag im Handelsregister. Austausch und Transporte. Man lud mich zu einem Termin in ein Café im Zentrum der Kleinstadt, in der ich damals wohnte. Was das hiess, war mir klar. Die Firmenräumlichkeiten mussten wenig repräsentativ sein. Ich war eine Viertelstunde zu früh. Das Café war leer bis auf eine Schwatzrunde von gelangweilten Frauen und einem Jugendlichen, der an seinen Aufgaben sass. Ich schätze – unter anderem – Pünktlichkeit und wollte auf keinen Fall zu spät kommen oder atemlos und verschwitzt. Ich trank also einen Tee und wartete, doch zur vereinbarten Zeit erschien niemand, und ich meinte schon, versetzt worden zu sein, als sich der Jugendliche von seinem Tischchen schräg mir gegenüber erhob, zu mir herantrat, sich mit «Rosszko» vorstellte und mit fragendem Tonfall meinen Namen nannte.
Ich stutzte, nickte und grüsste. Er zeigte ein ernstes, aber freundliches Gesicht und bedankte sich artig für mein Kommen. Rosszko hatte beste Manieren, fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe, war im ganzen Gespräch aufmerksam und erkundigte sich erst nach meinem Ergehen und dann nach meinen beruflichen Fähigkeiten und meinem Werdegang. Seinerseits erklärte er mir in wenigen Worten, dass sein Geschäft die Vermittlung von Schüler- und neuerdings auch von Studentenaustauschplätzen beinhalte. Zudem organisiere er die Ferienlager ganzer Schulklassen samt Transport, und dafür brauche er eine Sekretärin, die den Überblick behalten könne und Ordnung in den Büchern habe. Fremdsprachen seien von Vorteil.
Ich zögerte und überlegte mir, ob ich das Angebot ernst nehmen konnte. Der Jugendliche sprach zwar in seriösem Ton, aber ich war mir keineswegs sicher, ob er nicht gut schauspielern konnte und ich einem Schülerscherz aufsass. Ich hatte weder Zeit noch Lust, mich mit fragwürdigen Spässen abzugeben, sondern suchte eine anständig bezahlte Stelle und ein sicheres Auskommen.
Ich sei verwundert darüber, erklärte ich ihm, dass er von einem eigenen Geschäft rede. In seinem Alter. Das brauche mich nicht zu beunruhigen, meinte er und fragte nach meinen Gehaltsvorstellungen. Meine Zweifel waren nicht vom Tisch und so gab ich zur Antwort, ich wolle mindestens so viel verdienen wie in meiner letzten Stellung, und fragte gleich auch nach den Geschäftsräumlichkeiten. Rosszko bot mir ein Anfangssalär an, das etwas über meinem letzten lag, und bat mich, sogleich mit der Arbeit zu beginnen. Sogleich? Ja, am liebsten gleichentags. Ich hätte mich in den Bewerbungsunterlagen als selbständige Angestellte ausgewiesen und als frei von Verpflichtungen. Das sei, was er brauche, und er brauche jetzt, jetzt gleich eine Kraft, die das Büro einrichte. Der Mietvertrag sei unterschriftbereit und nächste Woche, das heisst zu Monatsbeginn, könne eingezogen werden. Ich solle mir bis dann überlegen, was wir benötigen. Mobiliar, Ordner,Schreibmaschinen, Kopierer, Telephone. Ich würde mich ja laut Bewerbung mit elektronischen Schreibgeräten auskennen.
Ich gehörte damals tatsächlich zu den ersten, die auf elektronische Maschinen und dann auf Computer umstellten und darin sattelfest waren – ich bin es noch stets. Ich traute der Sache immer noch nicht und fragte mich, ob der Junge nicht nur einfach gut Theater spielen konnte, sondern gar einem jugendlichen Grössenwahn verfallen war. Jedenfalls erbat ich genauere Angaben und erkundigte mich, ob er sich das alles leisten könne oder ob jemand mit entsprechender Finanzkraft hinter dem Geschäft stehe. Er habe Fremdfinanzierung nicht nötig, replizierte er trocken, und wenn ich die Anstellung nochmals überschlafen wolle, so lasse er mir selbstverständlich Zeit – bis am nächsten Tag in der Frühe, mehr nicht, denn dann müsse er weiterschauen.
Ich beschloss seine Jugendlichkeit direkt anzusprechen. Ob er sich im Klaren sei, dass er einige Risiken eingehe, und ob er diese Risiken wirklich abschätzen könne. Wenn er einmal unterschrieben habe …
Der junge Mann nickte. Er verstehe meine Bedenken. Aus der Distanz betrachtet. Was die Unterschriften angehe, so übernehme das seine Grossmutter. Er sei noch nicht volljährig. Das Geschäft laufe allerdings schon länger.
Rosszko erläuterte: „Der Schüleraustausch. Ich habe das seinerzeit übernommen. Von einem Lehrer, der plötzlich erkrankte. Ich organisierte das Programm, die Reisedformalitäten und den Transport. Im nächsten Jahr übernahm ich das alles wie selbstverständlich und bot an, auch für die Parallelklassen besorgt zu sein. Die Lehrer waren froh darum. Auch um die Transporte. Es war einfacher mit Bussen als mit der Bahn. Natürlich erhielt ich Provision von den Transportunternehmen. Und: Ich beschaffte mir eine Datenbank und schlug vor, gleich den Austausch und die Transporte der ganzen Schule zu übernehmen. Die Schulleitung war einverstanden und ich gründete die Firma. Meine Grossmutter unterzeichnete im Handelsregister. Ich machte etwas Werbung, und bald kamen Anfragen von anderen Schulhäusern.“
Rosszko unterbrach sich. Dann lächelte er: „Bis jetzt eine Briefkastenfirma. Damit ist es nun zu Ende.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Das wär’s.“ Und blickte mich fragend an.
Ich nahm die Stelle an. Ich sah rasch die Chancen des kleinen Unternehmens. Wir kannten bald weit herum alle möglichen Ferien- und Studienunterkünfte für Schulklassen, hatten Beziehungen zu Schulhäusern nicht nur unserer Stadt, sondern auch anderer Orte und vermittelten immer mehr Plätze im In- und Ausland. Das gab es damals noch. Unsere kleinen, tatsächlich alles andere als repräsentativen, doch sauberen und effizienten Räumlichkeiten in einem Lagerhaus glichen einem Generalstabsbüro. An den Wänden befestigten wir riesige magnetische Landkarten, in denen alle Schulhäuser je nach Grösse in verschiedenen Grün- und alle Unterkünfte in Rottönen ausgezeichnet waren. Rosszko kam täglich abends ins Büro; er beschaffte hauptsächlich Informationen und Rückmeldungen und pflegte die nachfragenden Schulen und die Unterkünfte präzis zu qualifizieren. Ich vermittelte die passenden Anfragen und organisierte den Transport.
Die „Transfer“ hatte noch einen weiteren Geschäftszweig. Rosszko war auf die Idee gekommen, mit Schulbüchern zu handeln. Erst ging es im Kleinen um gebrauchte Ware, dann aber vermittelte er, und bald auch ich, ganze Klassensätze, und nicht nur secondhand, sondern auch Neuwertiges, denn immer mehr Lehrer schätzten die Bequemlichkeit, Bücher bei uns in jeder gewünschten Menge zu bestellen und sich liefern zu lassen. Im Lager nächst uns verfügte man über Kapazitäten; wir übernahmen Räumlichkeiten und Dienste, und so waren wir früh im Bücherversand tätig, sammelten die entsprechenden Erfahrungen und optimierten die Wege zwischen den Schulbuchautoren und Verlegern einerseits und den Abnehmern andererseits.
Wir bauten die Schulbücherbeschaffung zu einer veritablen Medienbibliothek aus; leider wurde uns dies von den Schulämtern immer wieder einmal streitig gemacht. Sie versuchten uns zu konkurrenzieren, allerdings mit wenig Erfolg. Wir waren flexibler und schneller in der Beschaffung.
Ich kann sagen, dass ich das erste wirkliche Unternehmen Rosszkos war. Ich? Nein, natürlich der Schüleraustausch und die Schulbücherei. Ein harmloser Betrieb. Ein Geschäft wie Millionen andere auf dieser Erde. Nichts Besonderes. Das Besondere war, dass wir rasch expandierten, mit der Zeit auch international, und dass wir unsere Organisation kontinuierlich optimierten – und die Logistik anpassten.
Bald drangen wir auf den Büchermarkt. Versandbücherei. Andere interessierten sich nicht dafür. Damals galten Bücher als langweiliges Geschäft. Die Auflagen waren bescheiden, die Druckkosten hoch, der Vertrieb kostspielig. Dabei war Bildung im Kommen. So übernahmen wir erst populäre Klassiker. Vereinheitlichten Konzept und Design. Über die Klassiker kamen wir zur populären Literatur überhaupt. Auch da strafften wir das Sortiment; nicht dass wir es verengt hätten, im Gegenteil; wir bauten es auf, aber im Wesentlichen ausgerichtet auf die Wünsche der Kunden.
Zu dieser Zeit war Rosszko natürlich längst mit anderem beschäftigt und liess sich nur höchst selten bei der „Transfer“ blicken. Ich bin nun seit langem Geschäftsführerin und reise ab und zu in die Welt. An eine Sitzung mit Rosszko, der ja immer unterwegs ist. Mein Sohn ist gross geworden und studiert. Das macht mich flexibel.
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Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie